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Erziehung zur Politik
und zu Verantwortung

Pädagoge und Querdenker Hartmut von Hentig wird 80

Von Sabine Schulze
Bielefeld/Berlin (WB). Sein erklärtes Ziel war »Nie wieder ein zweites 1933«. Und Begriffe wie »Erziehung zur Verantwortung und Erziehung zur Politik« setzte Hartmut von Hentig um in ein konkretes Schulprofil. Am morgigen Freitag wird der »Vater der Bielefelder Laborschule«, der 1968 an die junge Universität Bielefeld berufen wurde und ihr bis zu seiner Emeritierung 1987 treu blieb, 80 Jahre alt.
Impulse: Hartmut von Hentig.Foto: Büscher

Geboren wurde von Hentig in Posen, nach Kriegsdienst und amerikanischer Kriegsgefangenschaft studierte er in Göttingen und Chicago Klassische Philologie, Philosophie und Pädagogik. Seine Berufung an die Universität Bielefeld machte von Hentig, einer der bedeutendsten Pädagogen seiner Zeit, davon abhängig, hier zwei Versuchsschulen aufbauen und leiten zu dürfen: um nicht nur dem Fach Pädagogik neue Impulse zu geben, sondern sein Ideal auch zu erproben. Es entstanden die Laborschule, eine Gesamtschule bis zur zehnten Klasse, und das Oberstufen-Kolleg, das die gymnasiale Oberstufe mit dem unversitären Grundstudium zu verbinden suchte - beide viel beachtet, aber auch lange und immer wieder heftig und kontrovers diskutiert. Selbstbestimmt sollen die Kinder und Jugendlichen an diesen Schulen lernen, dabei die Grenzen zwischen dem Leben und Lernen überwinden.
»Schule neu denken« lautet der Titel einer seiner zahlreichen Schriften, und das war es auch, was von Hentig wollte. Selbst »klassisch« erzogen, orientiert sich sein Bildungsideal an der Idee der griechischen Polis, einer Gemeinschaft der Verantwortlichen. Dazu gehört, dass er Dinge hinterfragt, kritisch reflektiert. Und dazu gehörte für ihn, der Mitglied der Deutschen Akademie für Wissenschaft und Sprache sowie des Goethe-Institutes ist, auch, 62-jährig an einer Sitzblockade gegen ein Pershing-II-Depot teilzunehmen. Nur wenige Tage, bevor er das Große Bundesverdienstkreuz erhielt, wurde von Hentig dafür zu einer Straße von 3000 Mark verurteilt. »Ich wollte zeigen, dass ich mich nicht nur mit dem Wort begnüge«, sagte er damals.
Die Menschen - besonders die kleinen Menschlein, die ihm in seiner Schule anvertraut waren und die er trotz seiner wissenschaftlichen Arbeit täglich unterrichtete - wollte und will er stärken. »Gegenhaltende Pädagogik«, so nannte er es, sollte dabei zu großen Druck von Kindern fern halten. Denn die Schule, kritisierte der Pädagoge einmal, fresse nicht die Kinder, wohl aber die Kindheit und Jugend.
Und auch als Emeritus ist von Hentig, der nie die Freude am unplanbaren Umgang mit Schülern verloren hat, nach wie vor engagiert und mischt sich in bildungspolitische Diskussionen ein. Dabei veröffentlicht er nicht nur wissenschaftliche Schriften, sondern trat zuletzt mit »Joschi - eine Hundegeschichte« als Kinderbuchautor hervor - vielleicht in der Erinnerung daran, dass sein eigener Vater den fünf Kindern häufig Geschichten erzählte.
Der Universität Bielefeld ist von Hentig, der heute in Berlin lebt, noch verbunden: als einer der Ehrensenatoren der Hochschule - eine Würde, die er schon als Kind anstrebte, nachdem er den Berufswunsch des Schiffskapitäns und Schauspielers ad acta gelegt hatte.

Artikel vom 22.09.2005