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Ankläger im Namen
der Verstummten

»Nazi-Jäger« Simon Wiesenthal 96-jährig gestorben

Von Alexandra Zawadil
Wien (Reuters). Als »Nazi-Jäger« war er weltberühmt. Mehr als fünf Jahrzehnte setzte er sich für die Aufklärung der Gräueltaten der Nationalsozialisten ein. Mehr als 1100 Verbrecher wurden durch seine Recherchen ausfindig gemacht und vor Gericht gestellt. Gestern ist Simon Wiesenthal im Alter von 96 Jahren gestorben.

Wiesenthal wurde 1941 von den Nazis in seiner Heimat in Galizien in der heutigen Ukraine verhaftet. Sein Leidensweg führte ihn durch zwölf Konzentrationslager, bis er 1945 von US-Truppen aus dem KZ Mauthausen in Österreich befreit wurde. Damals wog er noch knapp 50 Kilogramm. Von seinen Verwandten erlebten 89 die Befreiung aus den Todeslagern nicht mehr.
1953 nahm Wiesenthal die österreichische Staatsbürgerschaft an. An die Kollektivschuld eines Volkes glaubte er nie, trotzdem hörte er nie auf daran zu erinnern, dass aus Österreich unverhältnismäßig viele Verbrecher des NS-Regimes kamen. »Eichmann und 70 Prozent seiner Truppe, sowie zwei Drittel der Kommandanten der Konzentrationslager waren Österreicher«, sagte er immer wieder, »und Hitler selbst war ja auch kein Eskimo.«
In einer seiner wichtigsten Recherchen blieb Wiesenthal jedoch ein Erfolg versagt: Über Jahrzehnte hinweg suchte er unermüdlich nach dem aus Bayern stammenden Josef Mengele, der als KZ-Arzt in Auschwitz an der Ermordung hunderttausender Juden beteiligt war. Im Juni 1985 wurde in Brasilien ein Leichnam exhumiert und als Mengele identifiziert. Der Verbrecher war sechs Jahre zuvor bei einem Badeunfall ums Leben gekommen.
Wiesenthal richtete seinen Blick nicht nur auf die Vergangenheit und seinen Kampf für Recht und Gerechtigkeit führte er nicht nur für die NS-Opfer. Beunruhigt bekundete er in den letzten Jahren seines Lebens immer wieder seinen Unmut über die wachsende Fremdenfeindlichkeit und den Rechtsextremismus in Europa. Sein Werk betrachtete er als »Warnung an die Mörder von morgen«. »Ich habe keinen einzigen Tag vergessen, dass ich ein Überlebender bin«, sagte er in einem Interview. Es sei ein Privileg gewesen, das ihn ein ganzes Leben lang dazu verpflichtet habe, im Namen derer anzuklagen, »die keine Stimme mehr haben«.
Wiesenthal wurde oft gefragt, ob es denn sinnvoll sei, 80- oder 90-Jährigen um die halbe Welt nachzujagen. »Ich glaube, ein Verbrecher sollte niemals zur Ruhe kommen dürfen, selbst wenn das, was er getan hat, noch so lange her ist«, sagte er dann. International war Wiesenthal stets anerkannt. In Österreich war seine Stellung dagegen nicht immer so gefestigt. Der frühere Bundeskanzler Bruno Kreisky warf Wiesenthal »mafia-ähnliche Methoden« vor, als er den damaligen Vorsitzenden der Freiheitlichen Partei (FPÖ), Friedrich Peter, als Angehörigen einer berüchtigten SS-Einheit entlarvte.
Wiesenthal konnte und wollte nicht vergessen. Bis ins hohe Alter setzte er seine Arbeit fort. Seine Mutter sei in einem KZ umgekommen, sagte er. »Sie hat kein Grab. Ich trage ihren Grabstein in meinem Herzen.«

Artikel vom 21.09.2005