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Umfragen und Ergebnis klaffen auseinander: Lagen womöglich die Werte seit Ende Mai schon total daneben? Die Experten wissen es nicht wirklich.

Wohl noch nie lagen Demoskopen so falsch

Blamiert bis auf die Knochen - Fragen gehen ins Leere

Von Reinhard Brockmann
Bielefeld (WB). Verloren haben neben Schröder und Merkel auch die Meinungsforscher. Der 18. September - ein Waterloo. Eine ganze Zunft hat sich bis auf die Knochen blamiert, fast nichts hat gestimmt.

Neun bis zehn Punkte Abstand zwischen Union und SPD galten noch am Sonntagmittag, abends gab's das Gegenteil: ein Gleichauf irgendwo dazwischen. Die FDP galt als kleinster unter den Kleinen und wurde »best of the rest«. Dass knapp eine Million CDU-Wähler bei den Liberalen mitmischten, blieb dem Heer der Telefoninterviewer ebenso verborgen wie das insgesamt gesunkene Interesse am Wahlgang. Noch letzte Woche wurde über 90 Prozent Wahlbeteiligung spekuliert, herauskam ein Rückgang auf 77,7 Prozent.
Dimap-Chef Richard Hilmer ahnte wohl schon am Freitag zu wissen, dass er nichts weiß: »Mit Werten um 20 Prozent plus x zwei Tage vor Wahl ist die Anzahl der Unentschlossenen unter den Wahlwilligen so hoch wie nie.« Allensbach-Chefin Renate Köcher sprach von »Aufregungszyklen, die durch die Medien geprägt werden«, was aber normal sei, wie sie gleich wieder abfederte. Letztlich glaube die Mehrheit der Wähler nicht mehr an einen Fortbestand der rot-grünen Koalition, und unmittelbar vor der Wahl wäge man die Alternative ab. Wie wahr!
Schon am 8. September hatte sich WDR-Trendmann Jörg Schönenborn von der gesicherten Vorhersage verabschiedet: »Die Wähler entscheiden sich leider sehr ungleichmäßig. Viele offenbar auch mehrfach. Manche montags so, dienstags so.« Bei der Präsentation des letzten ARD-Deutschland-Trends, der in der Rückschau exakt ins Nirgendwo führte, setzte er seine Moderatoren-Kollegin Anne Will ins exakte Bild vom Ungewissen: »Die täglichen Stimmungsschwankungen führen dazu, dass man kaum noch messen kann.« Eine TV-Sendung, ein Parteitag oder ein großes Thema könnten eine Partei drei Punkte nach oben treiben. Und am nächsten Tag seien die Spuren wieder fast vergessen. Schönenborn: »Da muss man einfach ehrlicherweise sagen: In einer solchen Situation, wo auch die Hälfte der Wähler sagt, ist es diesmal ganz schwer sich zu entscheiden, da sind die Möglichkeiten einer Telefonumfrage einfach ausgereizt, und deshalb verzichten wir darauf.«
Allerdings hat auch Nicht-Demoksop Schönenborn als WDR-Chefredakteur trotz absehbarer Unbrauchbarkeit an der Umfrage-Praxis festgehalten. Warum? Er hätte sich selbst um seinen schönsten »Sendeplatz« gebracht.
Nach außen hält die Branche der Meinungsforscher dicht, kaum einer wollte gestern zum Desaster und massiven Methoden-Problemen Stellung nehmen. Kein Wunder: Nicht irgendeine Irritation, sondern die Grundlage einer ganzen Branche steht zur Debatte. Es geht um eine Riesen-Industrie, die nebenbei auch noch politische Vorhersagen verkauft. Ob Dimap, Forsa oder Allensbach: Alle verdienen ihr täglich Brot mit Marktforschung für zahlungskräftige Kunden aus der Wirtschaft.
Die andere Seite des Handwerks sind die meist als lästig empfundenen Telefoninterviews oder gar Straßenumfragen. Viele lehnen diese Gespräche rundweg ab, andere, die sich darauf einlassen, wollen sie spätestens bei der dritten Frage schnell hinter sich bringen.
Solcherart erhobene »Rohdaten« sind für die Sozialforscher zumindest problematisch. Selbst durch noch so raffinierte »Aufbereitung« und geheimnisvolle Fehlerquotienten werden sie nicht besser.

Artikel vom 20.09.2005