20.09.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Friedrich Nietzsche

»Vorsicht! Wenn der Mensch vor Lachen wiehert, übertrumpft er jedes Tier - durch seine Hinterlist.«

Leitartikel
Wer regiert wann und wie?

Vom »Rausch«
direkt zum
Basta-Wahn


Von Rolf Dressler
Eine Schlaraffen-Insel der Seligen, auf der Milch und Honig fließen, war Deutschland nie und wird es auch künftig nicht sein.
Aber: Es war einmal ein Nachkriegs-Deutschland, das dank einer großartigen Gemeinschaftsanstrengung beispielhaft gut da-stand. Politisch herangewachsen zu einer gefestigten, nach innen und außen verlässlichen Demokratie. Wirtschaftlich hoch geachtet. Und: gegründet auf vorbildlich solide Staatsfinanzen.
Den Älteren unvergessen, den Nachgeborenen jedoch völlig unvorstellbar, dass Vater Staat zur Regierungszeit des legendären Bundeskanzlers Konrad Adenauer und seines Finanzministers Fritz Schäffer sogar Überschüsse erwirtschaftete. Aber heute? Die Schuldenuhr rast, im Minutentakt rauscht die öffentliche Hand, deren Geldgeber wir Bürger sind, tiefer und tiefer in die roten Billionen-Euro-Zahlen.
Zugleich verkommt die vielbeschworene politische Kultur in einem Maße, dass es die Menschen schwindelt. Den jüngsten abstoßenden Beleg lieferte noch in der Wahlnacht der Mann, den FDP-Chef Guido Westerwelle in der Berliner Fernseh-»Elefantenrunde« eben deswegen fortan verständlicherweise nicht mehr mit »Herr Bundeskanzler«, sondern nur noch mit »Herr Kollege Schröder« anredete.
Fassungslos bis angewidert muss das Publikum mitansehen, wie Gerhard Schröder sich höhnisch zum Wahlsieger erklärt, ob- wohl die SPD mitnichten den Schub erhalten hat, auf den der Kanzler hoffte, als er sich im Bun- destag das gewünschte Nicht-Vertrauen bescheinigen ließ. Tatsächlich liegt die SPD nach dem bisherigen vorläufigen Ergebnis nach Sitzen und Stimmen hinter den Unionsparteien zurück.
Davon völlig unbeeindruckt zerlegt SPD-Chef Franz Müntefering - seinem »Gerd« grotesk zu Diensten - CDU und CSU plötzlich in zwei getrennte Parteien (!) und leitet daraus Schröders hanebüchenen Anspruch her: dass die SPD als unangefochten stärkste Kraft den Kanzler stellen und eine Koalitionsregierung ihres Geschmacks nicht nur bilden wolle, sondern installieren »wird«.
Basta-Wahn in Reinkultur.
Friedrich Nowottny, die integre ARD-Bildschirmlegende (»Bericht aus Bonn«), bewertete Schröders Entgleisungsauftritt denn auch folgerichtig - und vieldeutig - als hochnotpeinlich. Der Wahlkämpfer Schröder sei in der Fernsehrunde offenbar »berauscht gewesen« (kurze Pause) ... von der Vorstellung, dass er die SPD we- nigstens noch über die 30-Prozent-Marke habe hieven können.
Aber nicht nur dies befeuert die Ratlosigkeit. Schon wird vielerorten gemutmaßt, ob alles überhaupt mit rechten Dingen zugegangen sei bei der Auszählung der Wählerstimmen. Wie eigentlich soll sich ein Normalsterblicher die abenteuerlichen Auf- und Abschwünge der Meinungsbefragungskurven in kürzesten Zeitabständen erklären, mit denen die Parteien und das Wählervolk bis zuletzt bombardiert worden sind? Wurden die Bürger etwa kirre »informiert«, sprich: vorgeführt?
Viel zu wenig beachtet wird übrigens ein erschütternder Tatbestand: Nahezu jeder zweite erwachsene Bundesbürger und sogar zwei Drittel der Jungwähler zwischen 18 und 25 Jahren tun ganz offen kund, dass sie die Bedeutung der Erst- und Zweitstimme nicht kennen. Ein beschämender Offenbarungseid für die angeblich so ungemein wichtige politische Bildung. Hier klaffen Anspruch und Wirklichkeit an Schulen, Volkshochschulen und sonstigen Einrichtungen unbegreiflich weit auseinander. Die Wahlbeteiligung lag diesmal sogar noch niedriger als beim Bundestagswahlgang vor drei Jahren. Desinteresse, dumpfer Protest aus Mangel an politisch-gesellschaftlichem Wissen?
Wann Deutschland endlich wieder qualifiziert bürgerfreundlich und problemlösungsgerichtet geführt wird, steht in den Sternen. Nicht nur unsere aufstrebenden Weltmarkt-Konkurrenten können sich ins Fäustchen lachen.
Dabei ist das alles überhaupt nicht lustig.

Artikel vom 20.09.2005