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Es ist alles nur Spekulation; nicht mehr als der Bodensatz in einer Weinflasche, die schon seit Jahren in meinem Keller steht. Aber eines weiß ich mit Sicherheit: dass auch Kieran, wenn er nicht schlafen kann, weil es zu heiß oder zu laut ist, weil er zu viel getrunken hat oder sich Sorgen macht, an die Zimmerdecke starrt und denkt: Was wäre gewesen, wenn É? Denn diese Frage stellt sich jeder ab und zu in seinem Leben.
Und das ist mir genug.

Punkt
Etwas, das nur aus Zähnen und Klauen besteht, hat meine Großmutter gesagt. Und ich glaube es. Ich werde die Mutter sein, die auf die Uhr schaut, wenn das Kind zu Hause sein sollte. Ich werde den Blick nicht vom Wasser wenden, bis mein Kind wieder auftaucht. Ich werde Wespen erschlagen, sobald sie sich nähern, werde mein Kind ermahnen, auf der Straße Acht zu geben, werde Artikel über Meningitis und Masern und Kopfläuse und Drüsenfieber lesen. Ich werde auf Anzeichen achten, ob jemand mein Kind schikaniert. Ich werde es ohne Vorwarnung abküssen und damit in Verlegenheit bringen. Ich werde dafür sorgen, dass es sich im Auto immer die Gurte anlegt, und werde keine Lügen dulden, doch bei alldem werde ich eine beiläufige lockere Art perfektionieren, damit niemand bemerkt, wie überzeugt ich davon bin, dass die Welt nicht immer ein Ort ist, dem man vertrauen kann. Um fünf bist du wieder da, werde ich fröhlich über die Schulter rufen und dabei denken: Um fünf, um fünf oder früher, wenn es geht. So wie sie, meine Großmutter, es getan haben muss.
Sie starb an einem regnerischen Donnerstagnachmittag an einem schweren Herzanfall auf dem Pferdemarkt. Ich war gerade neunzehn geworden. Ich stand im Hof, als das Telefon läutete. Ich blickte hinauf zum Haus, zu den tropfenden Linden, und ich wusste es. Mein Großvater auch. Als ich den Hörer auflegte, stand er in der Tür und hielt sich die geballte Hand an die Brust. Ist es Lou?, sagte er.
In meinem staubigen orangefarbenen Metro fuhr ich mit ihm zum Krankenhaus.
Die Scheibenwischer klickten hin und her, und er saß auf seinen Händen wie ein Kind. Wann habe ich das letzte Mal wirklich mit ihr gesprochen, dachte ich. Und ich wusste es nicht.
Es ist schwer, den Ärzten zu glauben, wenn sie sagen, dass der Tod sofort eingetreten ist und so gut wie schmerzlos war, aber ich zog es vor, ihnen zu glauben, als ich da auf den blauen und beigefarbenen Fliesen im Wartezimmer stand. Ich würde es glauben, und damit würde es wahr werden.

U
nd mein Großvater veränderte sich, natürlich. Ich hatte damit gerechnet, aber sein Schmerz zeigte sich in kleinen Dingen. Er schlief eine Weile auf dem Sofa. Er bemerkte es nicht, wenn ich ein Zimmer betrat oder verließ, und er wurde vergesslich - der Kaffee wurde kalt in seiner Tasse, die Hunde wurden nicht gefüttert, und einmal sah ich ihn barfuß in der Küche stehen und auf seine kalten Zehen hinunterstarren. Ich machte mir eine Weile Sorgen und weinte im Stillen. Aber so wie das Jahr verändert auch der Schmerz nach und nach sein Gesicht, und mit der Zeit fing er wieder an, oben im Ehebett zu schlafen - aber er blieb immer auf seiner Seite.
Die Leute versuchten ihn damit zu trösten, dass ihre Zeit eben zu Ende gewesen sei. Sie hätte ein erfülltes Leben gehabt, sagten sie - als wäre siebzig ein respektables Alter und als könnte das seinen Schmerz lindern. Wie Unrecht sie hatten. So ist das nicht. Für ihn war sie nicht siebzig, sondern immer noch das braunäugige Mädchen neben der Wurfbude.
An ihn kam die Reihe neun Jahre später und auf sanftere Art. Arthritis und eine schlimme Erkältung zwangen ihn mit achtundsiebzig ins Bett. Ich ging hinunter, um ihm Tee zu kochen, und als ich wieder hinaufging, war sein Kopf zur Seite gesunken und die Decke bewegte sich nicht mehr. Das Letzte, was er zu mir gesagt hatte, war eine Bemerkung über den Sprung in der Teekanne gewesen. Alles in allem eine gute Art zu gehen.
Und Rosemary Hughes? Was ist mit ihr geschehen? Es wurde nie jemand verhaftet. Billy war das, was einem Verdächtigen für sie am nächsten kam, aber sie fanden ihn nie. Ich hätte es in den Zeitungen gelesen, wenn das der Fall gewesen wäre. So etwas wäre auf die Titelseiten gekommen. Es bleibt also alles ungelöst - und das ist das Schlimmste, das Traurigste.
Wenn sie Rosie fänden, könnte sich das ändern. Ein Haar, ein Tropfen Blut - mich verblüfft, was die DNA-Analyse kann. Aber die Suche nach ihr geht weiter. Ich habe meinen Teil beigetragen. Und wahrscheinlich können wir nicht mehr tun, als hoffen, dass eines Tages ein Dachs sie ausgräbt, oder ein Mann - mit grünen Augen oder nicht - eine Polizeistation betritt und erklärt: Ich habe etwas zu sagen.

C
ae Tresaint ist seit jenem Sommer, in dem ich acht Jahre alt war, nie wieder geworden, was es war. Auf jemanden, der es zum ersten Mal sieht, dürfte es ganz normal wirken - es gibt immer noch Hochzeiten in St. TysulÕs, Quizabende im Pub, der Laden ist zwar weg, aber dafür haben wir jetzt eine Tankstelle an der Hauptstraße, die man zu Fuß erreichen kann, also wird beim Kriegerdenkmal immer noch Eis geschleckt, und die meisten wissen noch, wer wer ist. Aber man braucht nur ein wenig an der Oberfläche zu kratzen, und Rosies Gesicht ist alles andere als verblasst. Wenn ich über einen Teppich von Fichtennadeln gehe, denke ich immer noch daran, was darunter liegen könnte.
Und es ist auch nie jemand dahinter gekommen, wem die Weide gehört, auf der damals unsere Kühe grasten, wo die alte Scheune stand. Aber sie gilt als Billys Grundstück. Daniel und ich nennen sie so, und jedes Mal, wenn wir daran vorbeigehen, werfen wir einen Blick übers Gatter.

A
ber reden wir nicht vom Tod. Reden wir von Geburt. Reden wir von der Geburt, die näher rückt, von dem selbst gezimmerten Kinderbett und den geschmirgelten Türen, von der schwarz-weißen Ultraschallaufnahme, die im unbenutzten Toastbrotständer steckt. Ein grobkörniges, verschwommenes Bild von etwas, das aussieht wie ein kleiner Fisch, und trotzdem weiß ich, wo sein Herz ist, wo seine Hände sind. Ein hübscher Bursche, sagt Daniel und drückt mir einen Kuss auf die Haut.
Reden wir von Billy, wie ich ihn in Erinnerung habe, auf einem Baumstumpf sitzend, mit locker im Schoß liegenden Händen; oder davon, wie Mrs. Maddox und ich durch Straßengräben kletterten und in fremde Grundstücke eindrangen, nur um die besten Schlehen zu pflücken; von Joes trockenem Kuss; oder davon, wie ich eines Morgens aufwachte und meine Großmutter sah, wie sie im Schlafrock die verblühten Rosen vom Strauch schnitt, während sie aufs Kochen des Wassers wartete.

R
eden wir von Daniel, wie er sich nach dem Schwimmen im See die Haare trockenrieb; von den Felsen am Tor-y-gwynt und wie sie die Farbe wechseln; von unseren Schafen, wie sie mit den Schwänzen wackeln und die Wiese mit ihrem Mist sprenkeln; wie gut diese Birnen sind; was für ein schöner, regenumhüllter Anfang mein erster Kuss mit Daniel war; wie ich mich in seinen Umarmungen verliere; wie meine Mutter und ich immer vom Schlafzimmerfenster den Zügen zuwinkten und am Freitagabend eine Tüte Pommes frites miteinander teilten; dass ihr letzter Eintrag in der Schuhschachtel nur aus drei sauber mit Tinte geschriebenen Worten bestand - morgen fahren wir; wie die Kühe ihre Ohren mit den Blechmarken schütteln; wie sehr, wie unglaublich Wales sich änderte, als ich vor acht Monaten aus dem Badezimmer trat, ein weißes Stäbchen mit zwei blauen Linien in der linken Hand.
Eines weiß ich: Wir werden einen Sohn mit einem ganz harmlosen Namen haben. Und sein Haar? Weder braun noch rot, sondern ganz seine eigene Farbe.
(ENDE)

Artikel vom 28.09.2005