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Da rutscht das Herz tiefer
Geschichte von einem Dieb, der nicht gestohlen hat
Man soll nicht alles glauben, was einem erzählt wird. Diese Erfahrung macht Anna. Aber lest mal selbst.
»Heute kommt ein neuer Junge in unsere Klasse«, erzählt Anna zu Hause. »Ich weiß«, sagt ihre Mutter, »Felix heißt er und geht eine Klasse zurück. Pass aber gut auf«, warnt sie ihre Tochter, »Frau Schneider hat gehört, dass dieser Felix schon mal geklaut hat!«
»Ehrlich?«, fragt Anna. Diebe kennt sie nur aus Büchern. Und jetzt wird einer bei ihr in die Klasse gehen. Das ist ja schauerlich.
Auf dem Weg zur Schule erzählt Anna ihrer Freundin Lina alles, was sie über Felix weiß. Lina staunt nicht schlecht und erzählt es ihrem Banknachbarn Henry.
Als Frau Weiß, die Lehrerin, einen Jungen mit ins Klassenzimmer bringt, weiß schon die ganze Klasse Bescheid.
Anna schaut den Jungen, den Frau Weiß als Felix Meier vorstellt, genauestens an. Eigentlich ist er ziemlich klein, anders als Anna ihn sich vorgestellt hat. Aber vielleicht müssen Diebe ja besonders klein sein, damit sie gut stehlen können. Ja, Anna ist überzeugt, dass seine Hände nur so zierlich sind, damit sie geschickt in jede Tasche greifen können. Und ist da nicht auch irgendetwas Hinterhältiges in seinem Blick? Ja, so muss ein Dieb aussehen. Anna ist überzeugt und guckt Felix grimmig an, als er sich auf den freien Platz neben sie setzt. Der braucht gar nicht zu glauben, dass er bei Anna etwas stibitzen kann.
Aufgeregt tuschelt sie mit Lina, die ebenfalls überzeugt ist, dass Felix unheimlich und gefährlich aussieht.
Als es zur großen Pause klingelt, greift Anna in ihren Tornister, um ihre kleine Bonbondose herauszuholen. Aber die Dose ist verschwunden.
Anna hält den Atem an. Die meisten Kinder sind schon auf den Schulhof gelaufen, nur Lina ist noch da. »Meine Bonbons sind weg!«, ruft Anna und guckt fassungslos in ihre Tasche.
»Welch eine Gemeinheit«, sagt Lina. Beide schauen sich an. Das kann nur einer gewesen sein. Anna rennt hinaus auf den Schulhof und brüllt zu den starken Jungen ihrer Klasse: »Er hat mich bestohlen, dieser Dieb. Felix hat meine Bonbons geklaut.«
Mit dem Finger deutet sie auf den Jungen, der abseits der anderen an einen Pfeiler gelehnt steht.
Die Jungen laufen sofort drauf los. Sie jagen Felix über den Schulhof. Er rennt, so schnell ihn seine Beine tragen können. Die Angst steht ihm ins Gesicht geschrieben.
Anna beobachtet die Verfolgungsjagd und freut sich, dass sie sich auf die Jungen ihrer Klasse verlassen kann.
In dem Augenblick, in dem sie Felix schnappen und zu Boden werfen, steckt Anna ihre Hände zufrieden in ihre Jackentasche. Doch was ist das? Anna weiß es sofort. Das Herz rutscht ihr in die Hose. Mit ihren Händen ertastet sie ihre kleine Bonbondose, die sie wohl geistesabwesend schon in die Jackentasche gesteckt hat.

Artikel vom 24.09.2005