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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Hans-Jürgen Feldmann


Die ersten elf Kapitel der Bibel nehmen die Menschheit insgesamt in den Blick. Es ist die sogenannte Urgeschichte, die mit der Schöpfung beginnt und bis zum Turmbau zu Babel reicht. Urgeschichte bedeutet jedoch nicht uralte Geschichte aus grauer Vorzeit. Es ist vielmehr die überall schlummernde Geschichte, die jederzeit mit elementarer Gewalt hervorbrechen und geschehen kann. Uralte Wahrheiten ereignen sich nämlich, wenn auch variiert, bis in die Gegenwart hinein, wieder und wieder.
Mit dem 12. Kapitel aber beginnt etwas Neues. Das Augenmerk richtet sich nunmehr auf eine einzelne Person: auf Abraham, der zum Stammvater des Volkes Israel werden soll. Dieser indessen stammt nicht etwa aus dem Land, das Israel später einmal besiedeln wird oder in dessen Nähe liegt. Er wird weit außerhalb davon lokalisiert: auf dem alten Kulturboden in der Nähe des Euphrat zwar, der aber die Menschen der Bibel fremd und befremdlich anmutet. Die Städte Haran in Chaldäa oder auch Ur werden als mögliche Herkunftsorte genannt. Gott erwählt und beruft nun gerade diesen Abraham, um mit ihm ein neues Kapitel seiner Geschichte aufzuschlagen.
Dabei ist es nicht seine Abstammung aus dem Kulturland und damit womöglich seine eigene Teilhabe an dieser hochstehenden Kultur, die ihn dazu prädestiniert. Auch persönlich bringt er die denkbar ungünstigsten Voraussetzungen dafür mit, zu etwas Großem ausersehen zu sein. Denn Abraham und seine Frau Sara werden als ein Paar in schon sehr fortgeschrittenem Alter geschildert, dazu kinderlos und in einem Stadium, in dem nach menschlichem Ermessen ein Kinderwunsch wohl nicht mehr in Erfüllung gehen könnte.
Gott jedoch - und das ist ein Grundzug der Bibel - knüpft nicht an das an, was Menschen für wahrscheinlich halten und sich selbst auch schon so oder so ähnlich ausgedacht hätten, was in ihren Augen eine geeignete Ausgangslage böte. Gott handelt vielmehr so, wie es einem Menschen nicht einmal im Traum einfiele. Er wählt nicht das Spektakuläre, das Sensationelle, das, was für Schlagzeilen sorgt. Gottes bevorzugter Wirkungsbereich ist vielmehr das Unauffällige, das Unscheinbare, das Verborgene, das, was zumindest nicht ohne weiteres ins Auge springt.
Wer sonst außer Abraham selbst nimmt denn schon Notiz davon, daß diesen ein Ruf erreicht, der nicht aus dieser Welt ist? Wer außer ihm vermöchte Gottes Stimme wahrzunehmen, wenn es heißt: »Der Herr sprach zu Abraham: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will« (1. Mose/Genesis, 12, 1)?
Es gibt Situationen, in denen Gottes Wort nicht von außen her- etwa als eine biblische Aussage oder als Passage aus einer Predigt - an ein menschliches Ohr und in ein menschliches Herz dringt. Vielmehr kommt es als eine Stimme von innen, aus dem eigenen Inneren heraus. Und doch ist es nicht die eigene Stimme, sondern sie ist einem sehr verwandt, aber zugleich sehr fremd. Sie kann sogar bedrohlich klingen. Denn es meldet sich in ihr etwas, das einen unbedingt angeht und einem zugleich eine gänzlich ungewohnte Richtung weist, ihn mit dem Vertrauten und Herkömmlichen brechen läßt, um einen Weg einzuschlagen, der ins noch Unbekannte führt und dessen Ziel zunächst Gott allein bekannt ist.
Nur soviel steht fest: Wer diese Stimme ausschlägt und sich stattdessen in den vermeintlichen Sicherheiten einrichtet, bleibt hinter dem, was sein Leben sein könnte, weit zurück. Es gibt ein göttliches Muß. Dem ist zu folgen, um sich den Segen Gottes zu erschließen. »Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein« (1. Mose 12, 2). So lautet die Botschaft an Abraham, und diesem wird das nicht anders zur Erfahrung als dadurch, daß er sich auf den Weg macht.

Artikel vom 17.09.2005