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Einmal rasieren, bitte - nass!
Über Rasierpinsel aus Hundshübel und das Wohlgefühl, das sich mit Dachshaar und Seife herstellen lässt
Falls Sie der Herr im Haushalt sind: Heute schon rasiert? Und falls ja: Wie ein Mann doch hoffentlich - also nass! Dazu haben sie natürlich nicht schnöden Dosenschaum versprüht, sondern wohlriechende Seife mit feinem Pinsel aufgeschlagen!
Sowas macht kein Mensch mehr, sagen Sie? Ein Anachronismus in Zeiten von Schnellschnell und Tiefkühlpizza?
Ansichtssache. Für einige Männer ist es das Schönste am Morgen, sich die Zeit für eine gepflegte, die Haut schmeichelnde Nassrasur mit allem Pipapo von cremiger Seife bis hin zum prickelnden Aftershave oder beruhigenden Shaving-Balsam zu nehmen. Ein Ritual!
Auf jeden Fall aber lässt sich mit dem Vergnügen des Mannes an der nassen Rasur (das sich angeblich immerhin mehr als 50 Prozent der deutschen mit Bartwuchs zumindest hin und wieder leisten) auch Geld verdienen! Weltweit sogar. In Hundshübel hat man das beizeiten erkannt.
Hundshübel - so heißt das Dorf im tiefsten Erzgebirge, eine gute Autostunde von Zwickau und nicht viel weiter vom böhmischen Karlsbad entfernt, in dem sich kurz nach dem Krieg, noch im Jahr 1945, ein gewisser Otto Johannes Müller selbständig machte. »Schlimmer kann es eh nicht mehr werden«, hat sich der Bürstenbindermeister seinerzeit wohl gedacht, auf den Neuanfang gesetzt und irgendwo im Haus seinen zunächst bescheidenen Betrieb eingerichtet, um die Familie ernähren zu können.
Zum allgemeinen Pinsel- und Bürstensortiment gesellte er den feinen Rasierpinsel. Und von diesem Erzeugnis, das allein dem Manne zur Pflege dient, leben heute, 60 Jahre und einen Staat namens DDR danach, noch seine Nachfahren: Sohn Hans-Jürgen Müller (63) und Enkel Christian (33) führen gemeinsam das Unternehmen namens Mühle-Pinsel.
Im Zeichen einer Windmühle haben sie damit auch ihr kleines Wirtschaftswunder im tiefsten Erzgebirge realisiert. Bis zu 15 Prozent Wachstum in den vergangenen Jahren bedeutet in der an Natur großen, aber wirtschaftlich nicht besonders starken Region sicheres Einkommen für 22 Menschen und deren Familien. Mühle-Pinsel macht mit den beiden Säulen seiner Produktpalette drei Millionen Euro Umsatz: Einige 1000 in reiner Handwerkskunst gefertigte Rasierpinsel wie der »Silberspitz Dachszupf Handarbeit« und etwa 1,5 Millionen »am Band« gefertigte Borsten- und Dachshaarpinsel gehen jährlich von Hundshübel aus in (fast) alle Welt. Exportiert (Anteil etwa 30 Prozent) wird in 30 Länder. Besonders nachgefragt sind die Erzgebirgs-Pinsel in Großbritannien und den USA, wo Männer das schmeichelnde Einseifen von Kinn und Wangen offenbar besonders zu schätzen wissen.
Die 60 Firmenjahre, die Mühle-Pinsel jetzt unter anderem in einer kleinen Broschüre mit dem Titel »RASUR KULTUR« zelebriert, waren freilich keineswegs alle so erfolgreich wie die jüngeren. Kaum hatte Gründer Otto Johannes Müller mit seiner kleinen Firma Fuß gefasst, gründete sich auf jener Seite Deutschlands unter Federführung der Sowjets ein Staat, der mit privaten Unternehmungen so gar nichts am Hute hatte. Gleichwohl blieben die Müllers zunächst am Ruder. Ob's daran lag, dass der Laden gut lief und auch zu DDR-Zeiten mit Exporten schon ordentlich Devisen brachte? Oder daran, dass das Erzgebirge auch von Ost-Berlin aus geographisch »ganz am Rande« und somit beinahe schon außer Sichtweite lag? Bis Anfang der 70er-Jahre jedenfalls durfte die Familie den Laden weiterhin leiten. Dann jedoch wurde auch hier in Sachen VEB - Volkseigener Betrieb - enteignet.
Im November 1990 holten sich die Müllers ihre Rasierpinselfabrik von der Treuhand zurück. Zwei, drei Jahre lang wurde ums Überleben gekämpft. Doch Investitionen in Fertigung, Programm und Sortiment - der Handel mit schicken Rasiersets, Pflegeprodukten und designorientierten Accessoires rund um die Rasur wurde mit aufgenommen - brachten schließlich auch unternehmerisch die Wende.
Die Tradition hat man darüber nicht vergessen. So ist Gründerenkel Christian Müller heute einer derjenigen im Betrieb, die sich auf die Kunst verstehen, einen »Silberspitz Dachszupf« in seiner ganzen Einmaligkeit mit eigenen Händen zu fertigen - ganz ohne Maschinen.
Bis zu 90 Euro zahlen Liebhaber für ein solch edles Stück - das freilich das größte Rasurvergnügen verspricht. Dachshaar-Pinsel nehmen viel heißes Wasser auf, massieren das Gesicht optimal, richten dabei die Barthaare auf - und schlagen den besten Schaum, wie Kenner wissen. Dass sie bei einigermaßen Pflege zehn Jahre und länger »leben«, relativiert dann schon wieder den Preis. Doch selbst für 4,95 Euro bieten die Erzgebirgler schon etwas an - für Einsteiger, wie es heißt. Und das müssen wohl viele sein. Die »günstige Standard-Qualität« ist im Katalog immerhin als »Bestseller« ausgewiesen.
Ob nun luxuriös oder eher einfach eingepinselt - fest steht, dass eine Nassrasur der elektrischen nach wie vor (und wohl auf immer) haushoch überlegen ist. Das wissen auch Damen zu schätzen. »In unserem Badezimmer steht ein wunderbarer Dachshaarpinsel neben einem feinen Porzellantiegel mit einer duftenden Seife«, berichtet eine, die durchaus verglichen hat, über das Zusammenleben mit »meiner wirklich großen Liebe«: »Ein perfekt rasierter, wohlduftender Mann fühlt sich wohl - und wunderbar an«, schwärmt sie. Die »Muskatnuss-Reibe« eines »Ex«, der morgens den Elektro-Rasierer vorzog, habe ihr Gesicht nach innigen Küssen am Abend dagegen »rot wie ein Radieschen« und »halbverwundet« hinterlassen.
Falls der gute Mann den Grund für das Ende dieser Beziehung (und anderer?) bislang nicht kannte - vielleicht weiß er es jetzt. Für ihn wie Leidensgenossen gilt: Es ist nie zu spät - auf Rasierpinsel und Seife umzusteigen!
Ingo Steinsdörfer

Artikel vom 24.09.2005