15.09.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Jüngster Bruder gesteht Mord

Schwester belastete »Familienehre«

Berlin (dpa). Ein Geständnis gleich zum Prozessauftakt: In der Verhandlung um einen so genannten Ehrenmord an einer jungen Deutsch-Türkin in Berlin hat ihr 19-jähriger Bruder die tödlichen Schüsse gestanden.
Vom Bruder erschossen: Hatun Sürücü. Foto: WDR

»Ich habe meine Schwester getötet. Ich hab die Tat allein begangen. Niemand in der Familie hat mir dabei geholfen«, verlas der Verteidiger des jüngsten der drei angeklagten Brüder die Erklärung gestern vor dem Berliner Landgericht. Er habe die Moralvorstellungen und den freien Lebenswandel seiner Schwester nicht akzeptiert und zudem befürchtet, dass der kleine Sohn seiner Schwester drogenabhängig wird. »Heute bereue ich die Tat. Das, was ich getan habe, ist nicht wieder gut zu machen«, erklärte der 19-jährige Türke über seinen Anwalt.
Die 23-jährige Hatin Sürücü war am 7. Februar mit drei Pistolenschüssen in den Kopf an einer Bushaltestelle in Berlin unweit ihrer Wohnung niedergestreckt worden. Die Anklage wirft dem 19-Jährigen sowie zwei mitangeklagten Brüdern im Alter von 24 und 26 Jahren Mord aus Heimtücke und niederen Beweggründen vor. Sie sollen den westlichen Lebensstil ihrer Schwester, die auch das traditionelle Kopftuch abgelegt hatte, als Kränkung der Familienehre empfunden haben. Eine Schwester der Toten mit weißem Kopftuch sowie ein Bruder treten als Nebenkläger auf.
Mit seiner Erklärung entlastete der Jüngere seine beiden Brüder. Diese stritten nicht nur eine Tatbeteiligung, sondern auch einen Kontakt zu ihrer Schwester ab. Auch untereinander seien sie eher zerstritten gewesen. Der 24- Jährige sei nicht in der Nähe des Tatortes gewesen. Seinen jüngeren Bruder halte er für fehlgeleitet. Der 26-Jährige, der laut Anklage die Waffe besorgt haben soll, bezeichnete sich als gläubigen Moslem. Eine Tat zur Rettung der Familienehre? »Diese Tat gereicht meiner Familie nicht zur Ehre«, ließ er erklären. Unklar ist bislang noch, ob das Gericht nach dem Jugendstrafrecht gegen den 19-Jährigen urteilt.
An dem Tatabend sei er zu Hatin in deren Wohnung gefahren. Er habe ihr ins Gewissen reden wollen. Eine von ihr wieder gewünschte Annäherung an die Familie habe er nicht akzeptiert. Sie begleitete ihn später zur Bushaltestelle, der Streit sei wieder ausgebrochen. Sie habe gesagt, sie gehe ins Bett mit wem sie wolle »Das war für mich zu viel, ich zog die Pistole und schoss«, ließ der jüngste Angeklagte verlesen.
Die in Deutschland geborene Hatin Sürücü wurde laut Anklage 1998 in der Türkei zu einer Ehe mit einem Cousin gezwungen. Nach der Geburt ihres Sohnes in Berlin im Mai 1999 weigerte sie sich, in die Türkei zurückzukehren. Dann zog die junge Frau gegen den heftigen Widerstand aus der Familienwohnung aus, holte ihren Schulabschluss nach und begann eine Lehre als Elektromechanikerin. Von ihrem Mann hatte sie sich getrennt.

Artikel vom 15.09.2005