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Zuhörer kämpfen
mit den Tränen

Arzt schildert Jessicas Martyrium

Hamburg (dpa). Die in Hamburg verhungerte Jessica (7) ist nach Angaben eines Rechtsmediziners unter großen Qualen erst nach jahrelanger Unterernährung gestorben.

Im Mordprozess gegen die Eltern der Siebenjährigen sagte der Arzt gestern vor dem Landgericht: »In der Literatur gibt es eigentlich keine vergleichbaren Fälle, da musste ich bis ins Warschauer Getto zurückgehen.« Beim »klassischen Fall« von tödlicher Vernachlässigung würden Säuglinge von einer möglicherweise drogenabhängigen Mutter allein gelassen und stürben nach einigen Tagen. Jessica wurde dagegen das Opfer einer »massiven, über mehrere Jahre dauernden chronischen Unter- beziehungsweise Mangelernährung«.
Die Anklage wirft Jessicas 36 Jahre alter Mutter und deren 49- jährigem Lebensgefährten vor, die gemeinsame Tochter durch böswillige Verletzung der Fürsorgepflicht umgebracht zu haben. Das Mädchen wurde ohne ausreichend Nahrung und Wasser in einem verdunkelten Zimmer wie in einem Gefängnis gehalten und starb in der Nacht zum 1. März 2005.
Nach dem Gutachten des Rechtsmediziners muss das Kind lange Zeit wegen eines Darmverschlusses starke Schmerzen gehabt haben. Es litt Monate lang unter massiver Austrocknung, weil es zu wenig zu trinken bekam. Dadurch bildeten sich verhärtete Kotballen im Darm, die selbst kleinste Mengen verdauter Speisen nicht mehr passieren ließen. In der Folge erbrach sich Jessica und erstickte schließlich durch das Einatmen dieses Breis.
Bei ihrem Tod wog die Siebenjährige nur 8,7 Kilogramm. Bei einer Größe von nur 105 Zentimetern entsprach das Kind dem Entwicklungsstand einer Dreijährigen. In Hungergebieten der Dritten Welt entscheiden Mediziner nach Angaben des Gutachters je nach Entwicklungsstand des unterernährten Kindes, ob es gerettet werden kann. Bei einem »Referenzwert« von 80 Prozent haben die Kinder nur geringe Überlebenschancen. Für Jessica ermittelten Rechtsmediziner 50,8 Prozent.
Der Oberschenkelknochen sei »dünn wie Glas« gewesen und hätte auch das geringe Gewicht der Verhungernden nicht mehr tragen können. »Jessica kann sich in den letzten Monaten nicht mehr auf zwei Beinen bewegt haben und ist allenfalls gerobbt«, sagte der Mediziner. Während er sein Gutachten vortrug, herrschte im Gerichtssaal atemlose Stille. Mehrere Zuschauer kämpften mit den Tränen. Die beiden Angeklagten sahen die ganze Zeit auf den Boden und scheuten den Blick auf eine Leinwand, auf der auch Bilder der ausgezehrten Leiche ihres Kindes gezeigt wurden.

Artikel vom 14.09.2005