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Wer wird sich in den kommenden Jahren an ihn erinnern, außer mir? Und sogar ich habe gelernt, ihn aus meinen Gedanken zu verdrängen. Wenn unerwartet irgendwo eine Ringeltaube gurrt, denke ich vielleicht kurz an ihn. Aber meine schlechten Träume sind seltener geworden. Mrs. Maddox hatte Recht gehabt: Es hat keinen Sinn, sich mit Vergangenem herumzuschlagen. Halte die Vergangenheit in den Wind, öffne die Hand und lass los.
Gerry bestritt, dass er den Ziegelstein geworfen hatte. Bis heute rollt er die Augen, wenn ich ihn frage, und sagt: Nicht schon wieder das É Nein! Okay? Ich war es nicht. Wer also? Nicht schwer zu erraten. Ich sehe ihn über die Glasscherben humpeln. Ich sehe ihn in einem Bus, der einem neuen Ziel entgegenfährt, das Kinn an die Brust gedrückt, nicht glücklich, aber auch nicht gänzlich traurig.

Und mein Vater? Ein Mann namens Kieran Green. Kein zweiter Vorname. Geboren und aufgewachsen an der Westküste Irlands, nicht weit von Limerick, und der jüngste von sieben, wie ich inzwischen erfahren habe. Rothaarig natürlich. Blaue Augen und Sommersprossen. Ein Charmeur; der Besitzer wissender Hände.
Er war erst dreiundzwanzig. Nicht alt. Mit dreiundzwanzig hat man noch das ganze Leben vor sich. Wie einen ungravierten Stein, eine unbeschriebene Seite. Ein wunderbares blühendes Alter, wie mein Großvater mir gegen Ende seines Lebens gesagt hat. Alles ist möglich, wenn man in den Zwanzigern ist, sagte er.
Kieran muss es auch so empfunden haben.
Er muss sich lebendig gefühlt haben, zu allem bereit, voller Abenteuerlust, denn im Sommer Õ68 nahm er die Fähre durch die Gischt nach Holyhead, bestieg einen Zug landeinwärts, kletterte auf den Snowdon, schlug dort im Park sein Lager auf und fuhr dann per Anhalter weiter in den Süden, vorbei an Bala mit seinen Seen, den Kupferminen und Schieferhöhlen, über den Dyfi hinein nach Cardiganshire und ans Ende des Kambrischen Gebirges, wo er im August auf einer Straße, die nach Lampeter führt, eine halb von Wiesenkerbel verdeckte verwitterte Straßentafel sah, die ihn dazu bewog, mit seinem Rucksack, Hände in den Taschen, und einem breiten, leichten Lächeln an der roten Telefonzelle vorbei nach Cae Tresaint hineinzuspazieren.
Meine Mutter nannte ihn schön. Ein Wort, das nicht nur für Frauen passt.
Bei einem Bier im »Weißen Hirschen« wurde Kieran ein Job auf Bryn Mawr angeboten. Er schlief dort, zwischen Mistgabeln und Mäusekot, und meine Mutter sah ihn zum ersten Mal, als sie zu ihrer wöchentlichen Reitstunde kam. Vielleicht mit Stroh im Haar. Woher weiß ich das alles? Von Billy natürlich. Er ist auch dort gewesen. Er hatte die Blicke zwischen den beiden gesehen und verstanden. Meine Mutter hat nie etwas verbergen können. Cae Tresaint wusste, dass sie in Kieran verliebt war, lange bevor sie es selber wusste.
Der Rest ist mir bekannt. Sie hat genug geschrieben - der Kuss beim Novemberfeuer, der Tag an der Küste, die heimliche Nacht in einem dunklen Hotel, in dem sie die Zeile eines Gedichts aufschrieb. Die Rendezvous in der leeren Scheune. Meine Zeugung, oben am Tor-y-gwynt.

A
ber es gibt so vieles, was ich nie genau wissen werde. Es sind Geheimnisse in dieser Schuhschachtel: ein kleines Stückchen blauen Bindfadens - was kann das bedeuten? Ein mit Zahlen bedeckter rosa Papierstreifen, aus dem ich nicht schlau werde. Und die trockenen Rippen eines Eichenblatts - warum? Bloß weil es hübsch war? Hat er es ihr gegeben? Oder ist es auf sie heruntergefallen, während sie auf ihn wartete?

Manchmal komme ich mir um vieles älter vor als neunundzwanzig. Ich habe das Gefühl, schon seit hundert Jahren zu leben, es kommt mir vor, als wäre ich so alt wie das Haus und genauso verwittert. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich schon viel hinter mir habe. Ich sehe mir mein erstes Schulbild an - der jungenhafte Haarschnitt, das dumme Grinsen, und das Mädchen tut mir Leid. Es liegt noch so viel vor dir, sage ich ihr. Freu dich an deiner Mutter. Halt sie fest.
Ja, ich bin zornig gewesen. Meine Teenagerjahre sind durchsetzt von meinem Groll gegen Kieran, der sich durch meine Kindheit und frühe Jugend zieht wie Tintenkleckse über das Futter eines Blazers, und sollte ich ihm je begegnen, so weiß ich, dass scharfe, erbitterte Worte aus meinem Mund kommen würden; ich würde ihn anzischen; ich würde ihn anfauchen. Ich würde ihn beschimpfen, wie meine Großmutter es mich - unbewusst - gelehrt hat.Aber nicht lange. Denn wie soll man hassen, was ein Stück von einem selbst ist? Was einem im Spiegel entgegenblickt? Wie kann man einen Mann hassen, dem man nie begegnet ist, dem man nie ins Auge geblickt, mit dem man nie gesprochen hat? Und dessen eigene Version der Dinge man nie gehört hat?

Sie hätte jeden haben können, hatte meine Großmutter geflüstert. Und stimmt das nicht? Billy hat sie geliebt, unser Tierarzt hat sie geliebt. Daniel fand sie wunderbar, immer. Und Mr. Phipps war so gefesselt von ihr, dass seine Liebe sich in Bitterkeit verwandelte, als sie ihn zurückwies, wie es jede vernünftige Frau getan hätte. Diese verfluchten JonesÕ, nannte er uns. Dieser dreckige irische Mistkerl. Diese rothaarige Hexe vom Pencarreg-Hof.
Männer hätten alles für sie aufgegeben, hätte sie es verlangt. Sie hätten ihre Hand auf die Bibel gelegt und gelogen, wenn nötig. Aber Kieran? Er zeigte ihr nur sieben Monate lang, wie das Leben immer sein sollte. Er zeigte ihr, wofür ihr Körper da war. Und im Mai, als die Libellen kamen, ging er ohne ein Wort - in der Nacht, nachdem er erfahren hatte, dass sie mich erwartete.
Erst dreiundzwanzig.
Aber am Ende läuft es wohl darauf hinaus: So wie wir lieben und dagegen ohnmächtig sind, so können wir auch nichts dagegen tun, wenn die Liebe nicht da ist.
Er muss jetzt in den Fünfzigern sein. Mehr als ein halbes Jahrhundert auf dieser Erde. Vielleicht schon etwas grau an den Schläfen und mit dem kleinen Bauch des mittleren Alters. Ich glaube, dass er noch lebt und dass es ihm gut geht. Eine Weile stellte ich mir vor, dass er irgendwo im Süden, in der Sonne lebt, mit Palmen und Jachten rundherum, aber das war naiv, denn unsere Haut ist zu empfindlich dafür. Er würde Sonnenbrand kriegen, da unten. Vielleicht ist er wieder in Irland. Oder vielleicht war er die ganze Zeit in Birmingham.

O
b er je an mich denkt? Ich habe mich entschlossen, es zu glauben - aber nur so nebenbei und vage. Ich kann Junge oder Mädchen für ihn sein; er ist nicht da geblieben, um es zu erfahren. Also ist es ein gesichtsloses Gespenst von Kind, an das er denkt - ein Schatten, der ihm um die Weihnachtszeit, oder wenn er an einem Spielplatz vorbeikommt, oder wenn er eine walisische Fahne sieht, durch den Kopf zuckt. Vielleicht betrachtet er manchmal seine anderen Kinder und fragt sich, ob ich ihnen ähnlich sehe; vielleicht hat er sich meinen Geburtstag ausgerechnet und trinkt zu Neujahr mehr, als er sollte. Vielleicht macht der Spiegel ihm Angst. Vielleicht schaut er immer ein zweites Mal hin, wenn jemand mit rotem Haar den Raum betritt. Vielleicht lässt jedes Klopfen an der Tür ihm für den Bruchteil einer Sekunde das Herz stocken.
Wer kann das schon sagen? Niemand.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 27.09.2005