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Ich stelle mir gerne vor, dass wir alle es nicht bemerkt haben, wie er - ohne seine Jacke - ins Dunkel hinausgekrochen ist, dass er es bis zur Hauptstraße geschafft hat, sich umdrehte, um einen Blick auf das Feuer zu werfen, dem er entkommen war, und den Daumen hochhielt, um ein Auto anzuhalten. Dass es ihm geglückt ist, von hier wegzukommen. Vielleicht hat er es doch noch bis zur Küste geschafft.
Jedenfalls wurde er nie gefunden.
Und Rosie auch nicht.
Aber ein Gutes ist aus alldem hervorgegangen. Nur eins. Mutter Natur ist eine seltsame stille Frau. Sie findet noch im Schlimmsten ein Stück Gutes. Feuer zerstört, aber es erschafft auch. Wenn ich heute zu der Stelle hinuntergehe, wo einst die Scheune stand, sehe ich dort Blumen blühen. Sie keimten an der Stelle auf, wo das Gras verbrannt war, und inzwischen ist die ganze Wiese eine Pracht. Akeleien, rote Lichtnelken, Steinnelken und Ackerwinden wachsen jetzt dort. Auch Margeriten haben Wurzel gefasst. Und am üppigsten gedeiht eine Pflanze, die sogar die verkohlten Balken und geschwärzten Schieferplatten überwuchert. Myosotis palustris - bekannt als Vergissmeinnicht.
Auf ein quadratisches Stück rosa Papier hat meine Mutter geschrieben:
Die Antwort ist ja. Es wird Ende Dezember kommen.
Und sie hat, was ungewöhnlich ist für meine Mutter, auch etwas dazugezeichnet. Ich bin nicht sicher, was es ist - entweder ein Lächeln mit zwinkerndem Auge oder - was mir natürlich noch besser gefiele - ein kleines, behaglich in eine Armbeuge geschmiegtes Bündel.

DRITTES BUCH
Rotes Haar
Das Haus ist voller Ahornsamen. Sie wirbeln durch offene Fenster oder bleiben in den Kleidern hängen und werden hereingetragen. Gestern habe ich einen unter meinem Hemd gefunden. Ich sah zu, wie er verloren auf den Badezimmerboden trudelte.
Und es gibt Rosskastanien. Wer hat sie als Kind nicht geliebt? Was für eine Freude, die stachelige Hülle abzuschälen und darunter den Schatz zu finden, schimmernd wie ein Auge. Mein Großvater und ich haben sie immer in Essig eingelegt. Wie Wissenschaftler untersuchten wir die Gläser und probierten die Früchte am Morgen aus; und diese Kastanien waren oft die härtesten in der Schule. Mit roten Fingerknöcheln und einem Siegeslächeln kam ich heim. »Und wie hat die sich gemacht?«, fragte er dann.


Jetzt ist auch Brombeersaison - genauer gesagt, das Ende davon. Die Beeren an den Sträuchern neben unserer Wendeschleife sind so groß wie mein Daumen. Aber sie werden jetzt selten gepflückt - dafür sorgt schon der steile Anstieg. Oder vielleicht isst heute kein Mensch mehr Brombeeren. Anscheinend locken sie niemanden mehr. Meistens bleiben sie für die Vögel übrig. Und so sollte es vielleicht auch sein. Unsere Windschutzscheibe ist voller brombeerroter Vogelkacke.
Es gefällt mir, dass der Oktober nicht mehr weit ist. Er ist mein Lieblingsmonat mit seiner Frische und den ersten Frösten, seinem Vogelbeergelee und dem Apfelfest, und weil auf einmal alle wieder Schal und Handschuhe tragen und man in den Läden schon Weihnachtsmusik hören kann. Meine Großmutter hasste das. Es sind noch drei Monate bis dahin, knurrte sie das Mädchen an der Kasse an. Aber ich lächle vor mich hin, wenn ich es höre. In Birmingham konnte ich fast glauben, dass Weihnachten zehn Wochen dauert.
Und es macht mir Spaß, Vorräte an Kohle und Schaffutter und Hundekeksen einzulagern, als würde der kommende Winter nie zu Ende gehen. Es macht mir Freude, die Winterdaunendecke vom Dachboden zu holen und die Schafe auszusuchen, die im Frühjahr Mütter werden sollen. Und ich mag sogar den Regen um diese Zeit. Er ist nur ein leises Plätschern. Und er bringt die Spinnweben zwischen den Drähten des Hundekäfigs zum Glitzern.
Ein guter Monat für einen Geburtstag, alles in allem, finde ich. Die bevorstehenden Weihnachten werden ein ziemliches Ereignis sein. Ich glaube, sie verdienen einen richtigen Baum.

Irgendwann nach dem Feuer warf jemand einen Ziegelstein durch Mr. Phipps Schaufenster. Ich konnte nicht dafür verantwortlich gemacht werden; ich hatte ein Alibi. Und er konnte sich auch nicht wirklich beschweren, denn es gab Schlimmeres, das uns bedrückte. Immerhin war Rosie nach wie vor vermisst.
Ich musste drei Tage im Krankenhaus bleiben. Ich erinnere mich noch an die Sprünge in der Zimmerdecke. Ich war benommen von den Medikamenten, atmete keuchend, hatte überall Brandblasen, und meine Großmutter wich mir nicht von der Seite. Sie war wunderbar. Sie war meine beste Krankenschwester, meine Trösterin. Wenn ich aufwachte, beugte sie sich über mich, richtete meinen Verband und flüsterte: Schon gut, schlaf wieder.
Mein Großvater hingegen fühlte sich unwohl in Krankenhäusern. Er trat von einem Fuß auf den anderen, ließ sich vorsichtig auf Stühle nieder, als wäre ihnen nicht recht zu trauen. Als er mich fragte, ob ich Schmerzen hätte, log ich. Ich sagte nein, aber es tat weh. Trotz der dicken Creme und des Verbands war die Wunde immer noch heiß. Wenn der Verband gewechselt wurde, konnte ich einen Blick auf mein Handgelenk werfen, und ich konnte nicht glauben, dass es wirklich meines war. In der Nacht stellte ich es mir vor - voller dicker, glänzender, nässender Blasen. Es juckte und pochte. Ich wusste, dass mir eine große Narbe davon bleiben würde.
Und Daniel kam jeden Abend. Er brachte mir eine Tüte Zitronenbonbons oder einen Comic. Er sagte wenig. Manchmal schlief er in dem grünen Plastikstuhl neben meinem Bett ein. Ich sah ihm zu, dachte an die Wand von Flammen und verkroch mich mit Hund unter die Decke. Dort weinte ich dann ein bisschen für mich allein in die Dunkelheit hinein.

Aber mein Zustand besserte sich. Die Zeit heilt - oder versucht es zumindest so gut wie möglich. Am Nachmittag des Gewitters kam ich heim, saß am offenen Fenster und schaute hinaus. Die Linden rauschten, und ich war sicher, ich konnte die Erde trinken hören. Ich fragte mich, was es für ein Gefühl wäre, den Verband herunterzuschälen, die Hand auszustrecken und den Regen auf die verletzte Haut fallen zu lassen.
Meine Narbe sah anfangs schrecklich aus - zornigrot. Aber jetzt ist sie fast hübsch. Sie sieht aus wie ein Armband, das unter meinem Daumen am dicksten ist. Ansonsten trägt meine Hand keinerlei Spuren, als hätte das Feuer versucht, mir eine Handschelle anzulegen. Weder hasse ich die Narbe, noch liebe ich sie. Sie ist einfach da. Sie erzählt eine Geschichte, wie Daniel sagt. Und stimmt das nicht? Genau das ist eine Narbe - der Beweis dafür, dass wir etwas durchgemacht haben, was es wert ist, niedergeschrieben zu werden.

Der Mann mit den grünen Augen, dessen Namen ich nie erfuhr, blieb noch ein Jahr in Cae Tresaint. Aber als ich fast elf war, wurde sein weißes Haus verkauft, und er stahl sich davon. Dass er fortging, wurde von niemandem beachtet, außer von mir. Ich sah zu, wie der Umzugswagen den Berg hinaufkroch und verschwand, und setzte mich erleichtert vors Kriegerdenkmal. Jetzt endlich konnte ich vor seinem Haus stehen und es anstarren - die abblätternde Farbe, die eine zerbrochene Fensterscheibe. Niemand vermisste ihn. Er war weder beliebt noch verhasst gewesen - in gewisser Weise einer von der langweiligsten Sorte.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 26.09.2005