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Was ist das?«, fragte ich.
Hatte ich gewusst, dass meine Mutter sterben würde? Hatte ich die von ihrem Tod ausgesandten kleinen Wellen gespürt, noch bevor ich sie zur Seite gesunken in der Badewanne fand? Ja? Und was war mit Rosie? Und der Dürre? Hatte ich es im Herzen und im Bauch gespürt, wie das Unheil näher rückte? Kann man die Zukunft erahnen, so wie Rutengänger das Wasser spüren oder Hunde ein kommendes Erdbeben?
Ich weiß es bis heute nicht.
Ich weiß nur, dass ich den Apfel fallen ließ und aus dem Hof rannte. Ich stürmte die Straße hinunter, hinein in die Dunkelheit, meine Schritte dröhnten auf dem Asphalt, und in meinem Kopf schrie es nein! nein!. Das Blut pochte in meinen Ohren und hinter der Stirn, und ich lief schlecht, ohne richtig zu atmen, mit fuchtelnden Armen. Mein Großvater rief mir nach. Ich hörte ihn, wusste, dass er mit gerunzelter Stirn beim Viehgatter unter unseren Linden stand, aber ich blieb nicht stehen. Ich konnte nicht. Ich wusste, dass ich laufen musste. Irgendetwas trug mich, irgendetwas ließ meine Beine rasen. Ich lief auf den Brych zu, warf mich über das Gatter zur Kuhweide, und dann gaben meine Knie nach. Ich schrie auf. Ich fiel ins Gras wie eine Puppe.
Es brannte schon lichterloh. Das Feuer war gewaltig. Die Flammen waren orange - ein hartes, unglaubliches Orange -, und sie schlugen bis über die Erlen und den Eichenbaum hoch. Sie umzüngelten einander, warfen rote Funken zum Himmel, und die ganze Weide war hell wie am Tag. Die Sterne waren ausgelöscht. Unsere Kühe drängten sich unruhig nahe der Straße zusammen, hoben schnaubend die Mäuler und stöhnten. In ihren schwarzen Augen spiegelten sich die Flammen.
Der Lärm, den ein Feuer macht, ist gewaltig. Ich hatte das nie gewusst. Oder vielleicht hatte ich es vergessen. Oder vielleicht hatte ich nie ein so großes, zorniges Feuer gesehen; eines, das sich ungehindert ausbreiten konnte, dem keiner Einhalt zu gebieten versuchte. Ich hörte Zweige schnappen, Stämme bersten, hörte, wie das Heu knisternd zum Leben erwachte. Ich hörte die Balken in der Scheune herunterkrachen und neue Funken aufwerfen.
Und ich sah die Umrisse von Männern zu meiner Linken, unten beim Buchenwäldchen. Zehn oder zwölf. Mit hochgerollten Ärmeln. Ihre Hände schlugen nach den Funken und dem Rauch, als würden sie nach Fliegen klatschen. Sie standen und schauten. Nickten vielleicht. Zufrieden mit ihrer Arbeit.
Ich sah Mr. Phipps. Die Arme vor der Brust verschränkt. Stolz.
Ich dachte: Billy.
Und ich dachte auch, während ich über die Wiese auf die brennende Scheune zustolperte, dass Asche ganz weich zu Boden sinkt. Schön und geräuschlos. Wie Konfetti, wie Schmetterlinge mit rot geränderten Flügeln.

Die Männer sahen mich zuerst nicht. Sie erwarteten mich ja auch nicht. Sie rechneten nicht damit, dass ich schreiend aus dem Brombeergestrüpp brechen würde. Fäusteschüttelnd. Mit aufgelöstem Haar. Aber ich tat es.
Ich wollte in die Scheune. Ich wollte Billy finden und ihn herausziehen. Ich wusste, dass er da drinnen war, ich wusste es, und so lief ich auf das Feuer zu, aber die Hitze war zu grimmig. Sie war wie eine Wand, so hart, dass sie mich zurückschlug. Trotzdem versuchte ich es wieder. Ich rannte dagegen an und brach durch sie hindurch. Meine Augen stachen, die Tränen strömten mir über die Wangen. Rund um mich brüllte der Lärm. Ich sah nichts als Feuer, sog Rauch in die Lunge und schrie seinen Namen, schrie durch die Flammen, wollte ihn herausziehen, ihn herausziehen aus dem Dunkel, sie herausziehen aus der Wanne, sie retten und zurückhaben, und ich warf den Kopf zurück und schrie seinen Namen. Billy.
Dann fiel ich. Und als ich fiel, sah ich etwas glänzen. Es glitzerte durch den Rauch, und ich streckte die linke Hand danach aus, direkt hinein in eine dunstige Wand von sengender Hitze. Meine Haut brannte. Wie Finger legten sich die Flammen um mein Handgelenk. Der Schmerz war so groß, dass er fast nichts war. Ich erinnere mich, dass ich einfach nur zusah, wie es brannte.
Und ich erinnere mich an Arme.
Sie legten sich um meine Brust. Kräftige Arme, Arme, in die ich hineinfiel, Hände, die ich kannte, und Daniel schrie mir meinen Namen ins Ohr. Ich hörte ihn durch den Lärm, und einen Moment lang wehrte ich mich. Ich trat nach ihm, versuchte, ihn zu beißen. Ich beschwor ihn, bot meine ganze Kraft gegen seine auf, um mich loszureißen. Billy, sagte ich ihm. Nicht Billy. Aber ich war acht. Ich war erschöpft. Ich hätte nichts gegen ihn ausrichten können.
Ich tat mein Bestes. Und das sagt er mir auch, selbst jetzt noch. Du hast getan, was du konntest, Eve. Lass es los.

Daniel schleppte mich in dieser Nacht von der Scheune fort. Er hielt mich in seinen Armen, als wir zusahen, wie die Scheune zusammenbrach. Ein Funkenregen sprühte hoch, und ein gewaltiger Hitzeschub schlug uns entgegen.
Er trug mich hinunter zum Brych und hielt meinen linken Arm ins Wasser. Ich weinte. Und ich weinte noch lange nachdem die Flammen kleiner geworden und die Männer gegangen waren. Ich schluchzte, bis mein Kopf schmerzte und meine Lunge brannte. Daniel ließ mich. Nach einer Weile trug er mich wieder hinauf auf die Wiese, legte mich in den Windschatten, weg vom Rauch, wo das Gras kühl war, und ließ mich. Ich schmiegte mich an ihn. Meine Haut war rot, mein Haar versengt, und ich schluchzte, bis mir das Herz wehtat, bis ich nicht mehr konnte. Langsam öffneten sich meine Fäuste. Er sagte nichts. Er sagte nicht: Ist schon gut. Er sagte nicht: Es ist vorbei. Es war nicht nötig, und es hätte keinen Zweck gehabt. Er wartete einfach.
Meine Großeltern fanden uns, hoben mich auf und trugen mich nach Hause. Sie riefen die Ambulanz.
Die Feuerwehr kam natürlich zu spät. Ich hörte die Sirenen durch meinen flachen Schlaf und erfuhr ein paar Tage später, dass sie in der Asche nichts als die spärlichen verkohlten Überreste einer grünen Wachsjacke gefunden hatten, und ein silbernes Bettelarmband, das die Flammen irgendwie nicht geschwärzt hatten.

Niemand suchte nach ihm. Soweit alle wussten, war die Scheune leer gewesen. Sie hatte schon seit Jahren leer gestanden. Was Brandstiftung anging, so wurde das mit einem Achselzucken abgetan. Feuer können sich selbst entzünden, wenn altes Heu herumliegt und die Sonne herunterbrennt, wenn nach einem Sommer ohne Regen alles trocken ist wie Zunder.
Ich weiß bis heute nicht, was aus Billy geworden ist.
Aber er muss es geschafft haben, herauszukommen - denn hätten sie sonst nicht Knochen gefunden? Hätte man nicht auf einen verkohlten Schädel stoßen müssen?
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 24.09.2005