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Geplatzte Adern, eine gebrochene Nase. »Ich hab mit dir zu reden«, sagte er.

Andere könnten vielleicht einen besseren Bericht davon geben, was dann geschah, als ich. Meine Erinnerung ist fast zu voll, wie vom Rauch geschädigt oder in der Hitze des Sommers geronnen. Mr. Phipps und ich von Angesicht zu Angesicht, meine Schultern im Schraubstock seiner Hände: mir das vorzustellen, ist schwer. Ich sehe uns, aber nur verschwommen. Als wären wir unter Wasser.
Und es war auch so ein Gefühl, das weiß ich noch. Draußen die Kirche, aber der Turm schien so weit weg. Die Geräusche waren gedämpft. Ich rang nach Atem. Er schüttelte mich, und ich schwankte wie ein Halm. Was hast du ihnen erzählt?, fauchte er. Ich sah, wie sein Mund die Worte kleines irisches Miststück formte.
Gib ihm einen Tritt, sagte mein Hirn. Treten ist nicht Schlagen, das heißt nicht, dein Versprechen brechen, das darfst du. Er hielt zwar meine Arme fest, aber die Beine waren frei, und so benutzte ich sie. Ich öffnete den Mund und schrie. Ich trat auf ihn ein, bis er mich losließ.
Und dann lief ich. Was blieb mir anderes übrig?

Ich rannte quer über den Friedhof, kletterte übers hintere Tor, zwängte mich durch dichtes Dornengestrüpp, sprang über Baumstümpfe, lief den Brych entlang bis zur Furt, wo ich durchs seichte Wasser watete, mit klitschnassen Schuhen auf der anderen Seite wieder hoch und hinaus auf die Weide, wo die Kühe erschrocken zur Seite stolperten, als meine Füße über die gesprungene Erde stampften. Ich wollte weg, nichts wie weg. Mich in Sicherheit bringen. An einem Ort sein, wo es keine Hände gab, keine Worte, nichts. Im Zickzack um die vertrockneten Kuhfladen herum stürmte ich über den Hang auf die Buchen zu und wälzte mich unter dem Stacheldraht durch.
Aber ich war ungeschickt und blieb hängen, riss mir an einem Stachel den Arm auf und fiel in die Nesseln.
Einen Augenblick blieb ich keuchend liegen.
Dann spürten meine Hände die Nesseln. Meine Schenkel, meine Knie, mein Gesicht. Es begann zu brennen.
Ich wimmerte. Ich war verstört, verwirrt, und als ich mich endlich aufrappelte, sah ich schon die Quaddeln auf meiner Haut aufgehen. Weiße Bläschen auf rosa Haut. Mein Arm blutete. Ein rotes Rinnsal schlängelte sich zu meinem Handgelenk.
Ich blinzelte durch den Schweiß und rief seinen Namen.
Er war da. Er saß in der Sonne auf seinem Baumstumpf und drehte irgendetwas in der Hand hin und her. Als er meine Stimme hörte, schaute er auf. Sein Blick umwölkte sich, als er mich sah, meine fleckigen Beine, das glänzende Blut. Mit ausgestreckten Armen, die Handflächen mit den Wunden nach oben gedreht, stolperte ich auf ihn zu.
»Evie«, sagte er, »was ist passiert?«
Ich sagte, ich sei eine Lügnerin. Eine schreckliche, böse Lügnerin, und jetzt sei ich in Schwierigkeiten, und zwar ordentlich.
»Was denn?«
»Mr. Phipps. Er war es nicht, ich hab alles erfunden, er war es nicht. Ich hab gewusst, dass erÕs nicht war, aber ich hab gesagt, er wärÕs gewesen. Ich É«
Billy untersuchte meinen Arm, meine Beine, die Unterseite meines Kinns, die vom Nesselausschlag schon dick geschwollen war. »Das sieht schlimm aus«, sagte er. Er legte meine Hand auf den Riss in meinem Arm. »Lass sie drauf.«
»Ich hab gelogen, Billy, ich bin -«
»Ampferblätter«, sagte er. »Das ist das Beste gegen Brennnesseln.«
Und damit ließ er mich auf dem Baumstumpf sitzen, die Hand auf den Arm gedrückt, und ging, Rumex crispus, Rumex crispus vor sich hin murmelnd, durchs Gras hinüber zu den Buchen.
Billy. Lieber, anständiger Billy mit dem hübschen Gesicht unter dem dunkelroten Mal.
Vergib mir, was danach geschah.

Was muss Mr. Phipps gesehen haben, der mir querfeldein gefolgt war?
Dieses:
Mich, acht Jahre alt, in einem verschwitzten weißen ärmellosen T-Shirt voller alter Erdbeerflecken und einer kurzen blauen Frotteehose, die eigentlich nicht für ein Mädchen passte. Mich mit sommersprossigen, dornenzerkratzten Gliedern, das Haar mit Bindfaden zu zwei zotteligen Schwänzen gebunden. Mich, atemlos, vom Laufen rot im Gesicht, den Tränen nah, eine Hand ausgestreckt, um das Gleichgewicht zu halten, während ich mit der anderen schüchtern die Hose auf der Innenseite meines Schenkels hochkrempelte.
Und Billy Macklin. Einen großen Mann in einer Wachsjacke, die zu schwer und heiß war für einen Hochsommertag. Einen merkwürdigen Mann, einen Einzelgänger, der sich über mein Bein - genauer gesagt, über die Innenseite meines blassen Schenkels - beugte und eine Hand dagegen presste, seine kühlen weißen Finger wie ein Netz über meine Haut gespannt.
Aus der Entfernung hätte keiner das Ampferblatt sehen können.
Kann ich Mr. Phipps einen Vorwurf daraus machen, dass er dachte, was er dachte? Bei all seinem Hass auf mich, all seiner Angst, kann man ihm einen Vorwurf machen? Stünde ich morgen derselben Szene gegenüber, genau derselben Szene, würde ich nicht dasselbe denken?
So einfach.
Der perfekte Sündenbock. Ein einfaches Gemüt. Ein Mann, für den keiner sich verbürgen, den keiner vermissen würde. Und wer würde schon dem Geschrei einer Achtjährigen glauben, die log und mit anderen Mädchen raufte und ihr halbes Leben mit Nachsitzen verbrachte? Deren Vater ein Dieb war durch und durch?
Ich wusste nicht, dass er mir gefolgt war. Ich hatte keine Ahnung.
Ich erinnere mich nur an die Abendsonne, die langen Schatten, an den Gesang einer Amsel auf dem Dach der Scheune. Und wie Billy sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen legte, während er meine Haut mit dem Ampferblatt abtupfte. Besser so?, fragte er.
Einundzwanzig Jahre ist das her, und die Schuld überfällt mich noch immer. Ich krümme mich, als hätte mir jemand die Faust in den Magen gestoßen. Ich könnte darüber den Verstand verlieren. Ich hätte es verdient.
Ich bekam keine Gelegenheit, ihm zu sagen, es tut mir Leid, und das war ich ihm schuldig. Er versuchte, mir zu helfen, und was hat es ihn gekostet? Zu viel.
Meine Schuld.
Wäre ich nur nicht in die Nesseln gefallen.
Hätte ich nur nicht gelogen.
Wäre ich nur nicht, hätte ich nur nicht É

Sag seinen Namen, sag William Macklin in Cae Tresaint, und die Geschichten schildern einen verrückten Eigenbrötler, der Rosie weglockte, sie vergewaltigte, tötete und irgendwo verscharrte, wo keiner sie finden konnte. Ein Wilder. Ein Unmensch. Kinder erzählen, dass er ein Ungeheuer war. Erwachsene erzählen, dass er verdorben, heimtückisch, gemeingefährlich war - vielleicht der Teufel selbst. Und sie erzählen auch, dass Eve Green, die Rothaarige vom Pencarreg-Hof, oft mit ihm gesehen wurde.
Dicke Freunde, die beiden. Wenn Sie verstehen, was ich meine.
Kein Wunder, dass sie so scheu ist.
Aber er war nicht böse - das wisst ihr genauso gut wie ich. Er war ein Mann, der den Wind suchte, weil er gegen seine Kopfschmerzen half, der wusste, wo die Tauben nisten, der sich an die wenig begangenen Pfade von Cae Tresaint hielt, um keinem zu begegnen, außer vielleicht hin und wieder einem verlorenen Schaf. Im Dunkel der Nacht legte er Blumen vor unsere Tür - diese Blumen waren immer von ihm. Und er legte sie für mich hin - nicht für meine Großeltern, nicht für Daniel, für mich -, weil ich Bronwens Kind war, und daher kümmerte er sich um mich. Sie war fort, aber ich war da. Und so gab er Acht auf mich und mochte mich, und der Huf einer grauen Stute hatte ihm alles aus dem Hirn geschlagen, bis auf die ihm angeborene große Fähigkeit zur Liebe. War er, so gesehen, nicht der Beste von uns allen? Kam er als Täter nicht am allerwenigsten in Frage?

Am letzten Tag im Juli steckte jemand die verfallene Scheune in Brand. Ich könnte nicht genau sagen, wer das erste Streichholz entzündete und in der hohlen Hand aufflammen ließ, bevor er sich hinunterbeugte und es ans alte Heu hielt. Aber ich kann es mir denken. Ich sehe sein Gesicht im Schein der aus dem Heu hochlodernden Flammen - sein böses Gesicht. Die knollige Nase. Gerrys Vater war auch dort, und der Wirt vom Pub, Lewis, Mr. Wilkinson und der Mann mit den erbsengrünen Augen. Und andere Väter, die halb betrunken, halb verrückt von der Hitze und mit einem unbestimmten Hunger nach Gewalt aus dem Pub strömten.
Ich war zu der Zeit im Hof. Es war ein klarer, luftloser Tag. Die Sterne waren zu sehen. Mein Großvater und ich saßen nebeneinander auf der Bank vor der Veranda, schauten zum Himmel hinauf und teilten uns einen Apfel. Er stach die Kerne mit einem Taschenmesser aus.
Schweigend kauten wir.
Plötzlich hörte ich auf.
Er sah mich an. »Ist was, cariad?«
Ein fernes tiefes Grollen war zu vernehmen. Fast wie Donner, aber nicht ganz. Fast wie ein Güterzug, aber zu gleichmäßig dafür. Konnte ich Stimmen hören?
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 23.09.2005