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Und er ist nicht mitgegangen, um nach ihr zu suchen. IchÉ« - ich zuckte schüchtern mit den Achseln - »É ich trau ihm nicht. Er macht mir eine Gänsehaut. Er schaut mich immer so komisch an É von oben bis unten. Und einmal hat er versucht, mich zu küssen.«
Jetzt war sie heraus, die Lüge. Da war sie. Ein Kuss, der etwas öffnet, oder einer, der etwas schließt? Beides wohl.
»Er hat dich geküsst? Bist du sicher?«
Ich nickte. »Aber sagen Sie es niemandem! Bitte! Sonst krieg' ich Ärger. Er hat gesagt, das ist unser Geheimnis.«
Nach einem Augenblick legte er mir kurz die Hand auf die Schulter und sagte: »Danke. Es war richtig, dass du es mir gesagt hast.«

Ich sah ihm nach, wie er durch die Lichtstreifen davonging, die durch den Erlentunnel auf die Straße fielen. Ich war zufrieden. Ich machte mir keinerlei Begriff von dem, was solche Lügen anrichten können, oder davon, was ich in Bewegung gesetzt hatte.

Orangen

Bleistift auf einem DIN-A4-Zettel:

Ist es wahr? Bin ich's? Zu früh, um es wirklich zu wissen, und ich darf mir keine Sorgen machen, denn ich kenne mich, und ich weiß, wenn ich mir Sorgen mache, wird es noch länger ausbleiben. So ist das eben bei mir. Aber wann ist es je so lange ausgeblieben?
Aprilschauer. Die kaputte Dachrinne lässt mich nicht schlafen. Er hat viel zu tun wegen des Wetters, also schon seit drei Tagen kein K - drei Tage!
Ich muss mit ihm reden. Denn was ist, wenn ich's bin? Es muss wohl so sein. Es muss. Seh ich anders aus? Fühl ich mich anders? Nein, ich fühl mich wie immer, ich hab in den Spiegel geschaut, und nichts ist größer als gewöhnlich, und es tut auch nichts weh. Schlecht ist mir auch nicht - aber wann kommt das? Nach einem Monat oder nach zwei?
Ich muss zu Dr. M. Es wird Zeit.
Würden wir ihm einen irischen Namen geben?

Es gibt natürlich keine Regeln. Die Morgenübelkeit kommt, wann es ihr passt. Mir wurde schon ungefähr eine Woche nach der Empfängnis übel. Orangen machten es aus irgendeinem Grund schlimmer. Der Geruch genügte, und schon musste ich aufs Klo laufen.
Aber es ist ja schließlich auch eine gewaltige Sache, mit der der Körper fertig werden muss. Kein Wunder, dass er durcheinander kommt. Seit der Geburt, vor der Geburt, hat er gelernt - wann er bluten soll, wann er heilen soll, wie er reagieren soll, wenn er hungrig ist oder müde, wenn er friert oder unter Stress steht. Er hat Erfahrungen gesammelt, was er braucht, um gesund zu sein, was ihm wehtut, worauf er allergisch ist. Rhythmen wurden gelernt, Muster festgelegt. Mit jeder Minute, jedem Tag legt der Körper eine immer genauere Karte seiner Landschaft an, bis er sagen kann: Das bin ich. So bin ich.
Dann verbinden sich zwei Zellen, pflanzen sich in ihm ein, und alles wird anders. Die Zukunft bekommt eine neue Bedeutung.

Ackerwinde

Verfolgt mich die Lüge? Jeden Tag. Zu denken, dass ich so etwas behauptet habe, und so dreist - es erstaunt mich noch immer. Sie ist das Maß, an dem ich alle späteren Unwahrheiten gemessen habe, und sie lässt sie alle verblassen. Dieser Mann? Er hat jemanden getötet. Kann man etwas Schlimmeres behaupten? Und ich habe meine Sache so gut gemacht. So eine begabte Lügnerin. Mein Wort wurde niemals offen angezweifelt; man hat mir sofort geglaubt.
Aber das war ja auch ganz natürlich. Ich war ein kleines, mageres Mädchen, das unschuldige, ängstliche Augen machen konnte, wenn es wollte; Mr. Phipps war ein starker Mann, der keine Freunde hatte, jähzornig und ein Geheimniskrämer. Es muss plausibel erschienen sein. Im Gehirn der Polizisten muss es bei dem Gedanken aufgeblitzt haben.
Sie nahmen ihn zu weiteren Verhören mit. Sie öffneten ihm die Tür des Polizeiwagens und sagten, er solle Acht geben auf seinen Kopf. Mr. Phipps' Laden war noch nie zuvor an einem Wochentag geschlossen gewesen - kein einziges Mal -, und als die Leute an der Tür zogen und sie verschlossen fanden, machte der Klatsch die Runde wie ein Lauffeuer. Mrs. Maddox rief uns an, um es uns zu sagen. Ich spähte durchs Treppengeländer auf den Kopf meines Großvaters hinunter, als er das Telefon abhob. Mein Gott, sagte er. Sind Sie sicher?
Soweit ich mich erinnere, empfand ich keine Gewissensbisse, nicht damals. Ich war nur aufgeregt, fühlte mich quicklebendig, rannte zur alten Scheune und betete, dass Billy dort sein möge. Ich hoffte auf ihn. Ich sehnte mich danach, ihn bei den Händen zu nehmen und ihm zu sagen, dass der Mann, den wir beide so verabscheuten, jetzt weg war. Ob er lächeln würde? Ich war nicht sicher, ob ich je ein richtiges breites Lächeln von ihm gesehen hatte.
Und er war da. Er atmete schwer, als hätte er den Weg zur Scheune aus irgendeinem Grund laufend zurückgelegt, aber ich stellte keine Fragen, denn ich hatte zu viel zu sagen.
»Er war es! Mr. Phipps!« Und die Worte schossen aus mir heraus wie Gewehrsalven. Er hörte zu, wie nur Billy zuhören konnte - reglos, mit Augen wie Torfseen.
»Na? Was sagst du?«
Jetzt glaube ich, dass er darüber nachdachte, wie manche Dinge sich nie ändern. Ich glaube, dass er mich ansah und ein Gefühl von Wehmut empfand. Vielleicht liegen Fehden einem Menschen im Blut. Vielleicht kann Hass vererbt werden wie die Körpergröße oder wie Sommersprossen oder ein Krebs verursachendes Gen? Die Kraft, mit der wir fühlen - ist das auch etwas Ererbtes? Meine Mutter ist zwar an gebrochenem Herzen in der Badewanne gestorben, aber ihr Herz war auch ein starkes, großartiges, unbeherrschbares Ding - hat sie es an mich weitergegeben? Und habe ich mehr von meinem Vater als rotes Haar?
Es war Billy, der mich an den Händen nahm, nicht ich ihn. Seine Finger schlossen sich um meine unversehrten Handgelenke, und er sagte: Du musst vorsichtig sein.
Ich blinzelte seine Warnung weg. Warum sollte ich vorsichtig sein? War nicht das Schwerste schon getan?

Stell dir Folgendes vor, sagte er.
Acht Monate vor meiner Geburt und spätnachts. Ein Mann mit roten Haaren kommt den Weg von Bryn Mawr herunter, eine Tasche über die Schulter geschlungen. Er bewegt sich geschmeidig und leise. Es ist Halbmond, aber man kann genug sehen. Das ist wichtig - keine Straßenlampen. Er pfeift vor sich hin. Er erreicht den Dorfplatz, schaut nach links. Der Laden ist dunkel, alles schläft.
Kieran bleibt stehen. Vielleicht zupft er an seiner Unterlippe, während er denkt. Vielleicht fährt er sich mit der Hand von hinten nach vorne über die Locken.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 17.09.2005