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Lügen
Meine Abneigung gegen Mr. Phipps wuchs mit der Hitze. In der Nacht, wenn wir bei offenem Fenster, nur mit einem Leintuch zugedeckt, schliefen, murmelte ich vor mich hin. Meine Vorhänge bewegten sich im leichten Nachtwind, und ich stellte ihn mir vor, wach, durch sein Haus stapfend, voller Hass gegen mich. Und Pläne schmiedend. Bei dem Spiel kann ich mithalten, dachte ich. Ich ließ meinen Zorn gären und zu einem dicken, kräftigen Gebräu verkochen. Ich spürte es in mir sitzen wie Teer.
Juli bedeutete, dass keiner in Pencarreg eine freie Minute hatte, denn Juli war die Zeit, in der die Schafe in desinfizierender Lösung gebadet werden mussten - daran konnten weder die Polizei, die Journalisten, noch Rosies sonnengebleichtes Foto auf den Telegrafenmasten etwas ändern. Das Getrappel aus dem Laufgang, in dem es säuerlich roch, hallte weithin, und Daniel war stets dort zu finden. Er tauchte die Schafe mit einer großen Stange unter, und wenn sie auf der anderen Seite wieder auftauchten, blökten sie ihn entrüstet an.
Mein Großvater befahl mir, mich von dort fern zu halten - Chemikalien; Regel Nummer drei.
»Die Dämpfe sind ungesund für dich, Evie, geh und schau, ob du deiner Großmutter helfen kannst.«
»Die ist bei Mrs. Hughes.«
»Und was ist mit den Hausarbeiten? Hast du keine Hausarbeiten zu machen?«
Eigentlich schon, dachte ich. Daniel blickte kurz zu mir auf und betrachtete mich amüsiert. »Hör mal - was kann denn daran schon so lustig sein? Beim Schafwaschen zusehen? Du bist mir wirklich eine Komische, Miss Jones.«
Also verbrachte ich meine Zeit mit Billy - oder versuchte es. Er war ruhiger denn je. Ich schob es auf die Hitze. Es schien mir logisch, dass eine solche Hitze einem empfindlichen Kopf schaden konnte. Ich ließ ihn also in der Scheune sitzen und redete, ohne Antworten zu erwarten. Ich erzählte ihm von Mr. Phipps. Ich ließ ihn einen Blick auf meinen Hass auf Mr. Phipps werfen, wie ein Pirat jemandem einen kurzen Blick auf seinen Schatz gewähren mochte, aber er hörte bloß zu.
»Er verheimlicht etwas, da bin ich sicher.«
Billy wandte kaum je den Blick von mir. Manchmal betrachtete er meine Stirn, wenn ich mit ihm sprach, oder meinen Mund. Einmal beugte er sich zu mir und legte mir die Hand ganz sanft aufs Haar. Als wolle er seine Wärme spüren oder mich segnen. Ich hatte nicht damit gerechnet, aber es störte mich überhaupt nicht.

Die Prüfungen begannen. Ich hatte zu kämpfen. Kein Wunder vermutlich - ich hatte durch die Trauer um meine Mutter ein Semester verloren. Mit Englisch, Geographie und Geschichte kam ich zurecht, aber mit allem Übrigen hatte ich Schwierigkeiten. Dass ich den Stoff kaum je wiederholt hatte, war auch nicht gerade eine Hilfe. Ich hatte mich von zu vielen Dingen ablenken lassen. Aber das galt wohl für die meisten in der Schule, und die Benotung in diesem Jahr war, glaube ich, insgesamt milde. Doch insgeheim wäre ich gerne eine gute Schülerin gewesen. Ich träumte davon, Klassenbeste zu sein. Ich träumte von roten Häkchen und goldenen Sternchen am Heftrand wie bei Gerry. Er war unglaublich. Seine Arbeiten kamen immer mit Glanz und Gloria zurück. Ich sah ihn an und lächelte. Er war in vieler Hinsicht ein feiner Kerl. Ich bin ihm nicht gerecht geworden.
Mein schlechtestes Fach war Mathematik. Das war schon immer so und wird wohl immer so sein. Die Zahlen kollerten mir im Kopf durcheinander, und ich verlor die Geduld. Die Arbeit war schrecklich. Ich ließ die Fragen einfach unbeantwortet. Ich starrte aufs Papier und dachte an anderes. Ich verließ die Klasse vor dem Ende der Stunde, weil es mir sinnlos schien, noch länger dort zu sitzen.
An diesem Nachmittag nach der Schule beschloss ich, die Regeln und Verbote meiner Großmutter zu ignorieren, und fuhr mit dem Bus eine Station weiter.
Das hatte ich bisher noch nie getan. Ich versteckte mein Gesicht hinter einem gelben Vorhang und sah zu, wie das Kriegerdenkmal und der Polizeiwagen vorüberglitten. Es war ein eigenartiges Gefühl. Ob richtige Forscher so empfanden? Ich wusste, dass meine Großmutter die Straße im Auge haben und auf meine Rückkehr warten würde, aber es war mir egal. Ich war nicht bereit, nach Hause zu gehen. Ich wollte ein oder zwei Stunden weg vom Dorf, weg von den Sorgen und dem ganzen Wirrwarr. Ich wollte schwimmen gehen. Ich wollte hineinwaten in den kupferbraunen See und untertauchen und die Mathematik und Rosie und Mr. Phipps an der Oberfläche zurücklassen wie einen öligen Film. Ich wollte ganz allein irgendwohin.
Hinter Cae Tresaint ging es weiter nach Llanddewi Brefi, und bei einer Haltestelle auf einem einsamen Straßenstück am anderen Ende der Fichtenschonung stieg ich aus dem Bus. Die Fahrerin - eine magere Frau, die Kaugummi kaute - musterte mich. »Das ist nicht deine Haltestelle«, bemerkte sie. Ich sagte, ich träfe mich mit einer Freundin gleich drüben überm Berg.
»Wissen deine Eltern das?«
Ich nickte.
»Und wie kommst du wieder nach Hause?«
»Ich werde heimgebracht. Ist alles abgemacht.«
»Na gut dann. Pass auf dich auf. Bis morgen.«
Der Bus zischte mich an, als er davonfuhr. Während ich ihm nachsah, guckte ein Junge, den ich nicht kannte, aus dem hinteren Fenster. Er trug eine Zahnspange. Ich zeigte ihm den Mittelfinger, schnallte mir meinen Rucksack um und machte mich auf den Weg in den Wald.

Ich habe diese Gegend nie besonders gemocht. Es ist Forstwirtschaftsland, und inmitten der unzähligen Hektar dichter, schweigender Nadelbäume finden sich plötzlich leere Flecken, wo Bäume gefällt worden sind und die Luft süß nach Sägemehl riecht. Diese Stellen haben etwas Gespenstisches. Es stehen Planierraupen dort, man sieht Reifenspuren und sauber gestapelte Holzblöcke, die beweisen, dass hier Männer arbeiten, und das oft. Aber wann habe ich je einen gesehen? Wann habe ich je auch nur einen gehört?
Ich hatte damit gerechnet, dass viel los sein würde am See. Ich wusste, dass einige der älteren Kinder manchmal nach der Schule hierher kamen, herumplantschten, herumknutschten, einander zu Mutproben herausforderten und sich lange Zigaretten drehten. Ich wusste auch, dass in den Sommermonaten hier Touristen über Nacht parkten: schwarze Flecken im Gras erzählten von ihren Feuern. Und die Reiter von Bryn Mawr hatten schon immer ihre Pferde hier an die Bäume gebunden und am Farnkraut zupfen lassen, während sie am Ufer ihren mitgebrachten Lunch verzehrten. Das alles wusste ich. Und ich hatte sie hier erwartet. Immerhin war es wirklich unvorstellbar heiß. Ich hatte noch nie zuvor richtig geschwitzt. Es war ein neuer Geruch an mir - früh entwickelt, hatte meine Großmutter hinter verschlossener Tür gesagt. Als wäre ich bisher zurückgeblieben gewesen.
Aber der See war ruhig. Ich fand ihn fast verlassen vor, als ich aus dem Wald trat. Keine Kinder, keine Touristen. Am gegenüberliegenden Ufer ging ein Mann mit seinem Hund spazieren; in der Ferne schwamm jemand ganz langsam, glatte Haare und weiße Arme, die manchmal aus meinem Blickfeld wegtauchten und dann an einer anderen Stelle wieder auftauchten. Mann oder Frau? Ich konnte es nicht feststellen. Ein einzelner Wanderer kam den Berg herunter.
Ich zog mich auf dem Platz aus, wo ich mit Daniel gewesen war. Ich schlüpfte aus den Schuhen und Socken, zog die Spangen heraus, die mein Haar aus dem Gesicht hielten. Es war verfilzt und trocken wie Stroh. Ich blickte mich noch einmal um, bevor ich mich aus meiner Schultracht schälte und die Arme um die Brust schlang, um meine kleinen rosa Brustwarzen zu verstecken. Kaum jemand da, und trotzdem fühlte ich mich beobachtet. Noch nie war es hier so still gewesen.
Das Wasser war eiskalt. Ich watete bis zum Bauch hinein. Das war das Schlimmste - halb heiß, halb kalt -, also hielt ich den Atem an, tauchte die Arme ein und ließ mich hineinplatschen. Mit einem Prusten kam ich wieder hoch und tauchte gleich wieder unter. Es war angenehm unter Wasser - außer dem Klopfen meines Herzens hörte ich nichts als eine riesige Stille. Meine Haut war knochenweiß. Ich kam wieder herauf in die Hitze und ans Licht. Eine Weile ließ ich mich auf dem Rücken treiben wie ein Stern.
Ich bin nie wieder dort geschwommen. Ich bin nicht abergläubisch, aber ich traue diesem Wasser nicht. Nicht mehr. Ich bin nur zweimal drinnen gewesen, aber beide Male erwarteten mich schlechte Nachrichten, als ich nach Hause zurückkehrte.
Ich kletterte an Land, trocknete mich mit meiner Tracht ab und zog sie wieder an. Sie klebte an mir, als ich nach Hause lief, und fühlte sich an wie eine fleckige zweite Haut; und so sah es wohl auch aus.

Was fand ich zu Hause vor? Daniel, der auf der Bank neben der Veranda saß und sich ein Geschirrtuch an den Mund hielt.
Mein Herz schrie auf. Ich rannte zu ihm. »Was ist? Was ist passiert? Hast du dich beim Schafbaden verletzt?«
Er lächelte und schüttelte den Kopf. »Das war die Faust eines Mannes, Evie.«


(wird fortgesetzt)

Artikel vom 15.09.2005