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Ich kannte die Geschichte schon, aber ich hatte nie erfahren, wie krank. Er hat seine Freundin mit einer Schrotflinte bedroht, sagte Billy. Er hat ihr den Lauf an die Kehle gedrückt. Ich konnte mir vorstellen, wie sie ihn, an die Wand gepresst, angefleht hatte.
»Wirklich? Ist das wahr?«
»Ich sag dir ja, es ist seltsam.«
Er erzählte mir auch, dass die Menschen, viele Jahre vor seiner Geburt, viele Jahre, bevor es Cae Tresaint überhaupt gab, da oben Sachen taten. Was für Sachen? Er meinte Versammlungen. Er meinte, dass zwielichtige unchristliche Gestalten sich da oben bei den Felsen trafen und im Wind stille Zeremonien abhielten. Ich war hingerissen. Ich dachte an geblähte Mäntel und lange Bärte. Ob da auch Zauberei im Spiel war? »Haben sie Opfer dargebracht?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Das glaub ich nicht.«
»Was haben sie dann getan?«
Wahrscheinlich bloß gesungen, sich an den Händen gehalten und die Aussicht genossen, dachte ich mir.
Jedenfalls - Tor-y-gwynt galt immer schon als ein trauriger Ort. Es heißt Tor-y-gwynt, weil der Wind da oben einfach unglaublich ist. Für das Ohr eines gottesfürchtigen Menschen klingt er wie das Heulen eines verwundeten Wesens. Ich hatte das oft gehört. In böigen Nächten, wenn ich mein Fenster aufstieß, hörte ich das Stöhnen von da oben und fragte mich, ob Wilfred oder Hywel John oder Großonkel Duncan je im Hof stehen geblieben waren, um diesem Ruf zu lauschen, falls sie ein Zeichen irgendeiner Art darin sahen.
»Und jetzt«, sagte er mit einem Achselzucken, »der Rollschuh. Es ist der Tor. Es ist É«
»Aber«, warf ich ein, »du gehst doch auch dorthin.«
Er hörte zu kauen auf und blickte mich an.
Und dann erzählte er mir die beste aller Geschichten. Immer wenn ich Füchse rieche, denke ich an diesen Tag unter den Buchen, der Tag, an dem ich erfahren habe, wie ich entstanden bin.

An einem windigen Morgen vor fast einem Jahrzehnt, erzählte Billy, sei er mit schmerzendem Schädel erwacht. Es pochte in seinem Kopf. Es tat ihm weh, die Augen zu bewegen, und immer, wenn das passierte, ging er hinauf auf den Berg. Er brauchte dann frische, saubere Luft, sagte er. Er wollte eine Weile da oben bleiben, tief die Luft einsaugen und in Richtung Meer blicken. Das hilft, sagte er und fuhr sich mit den Fingerspitzen über sein brombeerfarbenes Mal.
Es war April - gerade erst. Die Lämmer waren schon auf den Weiden. Gelbe Stelzen flatterten ums Rhabarberbeet herum - wahrscheinlich bauten sie dort ihr Nest. Ein guter Tag. Strahlend, viel versprechend.
»Und hat der Wind deinem Kopf geholfen?«, fragte ich.
Als er den Kamm erreichte, ging er zu der Schäferhütte und setzte sich davor, wie er es immer tat. Aber es waren schon andere da, sagte er. Er konnte sie hören. Er stand wieder auf und blickte sich nach ihnen um.
»Wer waren diese anderen?«, fragte ich. »Wanderer?«
Er schüttelte den Kopf. »Bronwen und Kieran. Sie waren drüben beim Tor; sie lagen hinter dem größten Felsen. Auf der anderen Seite - gut versteckt. Vom Dorf aus konnte sie niemand sehen - aber ich schon.«
»Was haben sie gemacht? Warum haben sie sich versteckt?«
Was für eine kindische Frage.
Es versteht sich von selbst, was sie gemacht haben.
An dem Tag waren viele Bussarde unterwegs. Drei kreisten über dem Tor. Billy konnte sich nicht näher an das Paar heranwagen, denn dann hätten sie ihn bemerkt, und was dann? Kieran wäre zornig geworden. Bronwen hätte É was? Ein enttäuschtes Gesicht gemacht, sagte er. Er wollte sie nicht enttäuscht sehen. Also blieb er eine Weile in der Hütte.
Seine Kopfschmerzen vergingen nicht wirklich. Im Allgemeinen tat ihm die Luft da oben gut, erklärte er. Aber dieses Mal nicht. Es klappte nicht. Er ging mit seinem brummenden Schädel wieder hinunter und fühlte sich zwei Tage lang krank. Ich nickte im Schatten unter den Buchen; ich konnte mir vorstellen, dass ein Tritt an den Kopf solche Folgen hatte.

Ich gab ihm einen Kuss zum Dank dafür, dass er mir das erzählt hatte. Es überraschte mich selbst. Ich stemmte mich hoch und gab ihm einen leichten kindlichen Kuss direkt auf sein Brombeer-Mal. Für mich war dieser Kuss ein Dankeschön - ein Kuss, der etwas beendete, weiter nichts. Aber nicht für Billy. Ich glaube, es muss Jahre her gewesen sein, dass er zum letzten Mal so geküsst worden war, wenn überhaupt je, und ich glaube, der Kuss öffnete etwas in ihm. Eine Dachbodentür ging knarrend auf. Er blickte mich an. Sein Blick war beherrscht und ruhig - alles andere als verrückt.
Inzwischen war es Juli.

Glück
Sie schreibt:
Heute hat er mich überrascht - nicht zum ersten Mal. Er stand auf einmal auf unserer Straße und nahm mich mit hinauf zum Tor. Mit einer Sechserpackung Bier im Rucksack und Zigaretten für uns beide. Sogar eine Decke hatte er dabei! Ich habe seinen Geruch kennen gelernt. Es ist mehr als nur Erde und Tabak. Ein weicherer Duft - Seife? Ich weiß nicht. Am stärksten ist der Geruch an seinen Schlüsselbeinen und in seinem Haar. Tor-y-gwynt gehört jetzt ihm. Immer, wenn ich den Platz sehe, werde ich an seine Schlüsselbeine denken. Ich habe Glück! Wer hat das schon?
Hatte sie Glück? Darüber kann man streiten. Die Mehrzahl der Menschen würde sagen, nein - wie kann man von Glück reden bei einer so leichtsinnigen Liebe! Sie hat so viel für ihn aufgegeben - für ihn ist sie eine überlastete junge Frau mit Kind und Stirnrunzeln und einem braunen Fläschchen Schlaftabletten in einem Reihenhaus neben Bahngleisen geworden. Ich habe gehört, dass man sie die arme Bronwen nannte. Sie hätte das gehasst.
Aber dann denke ich an Dr. Matthews. Ich denke an die Ammenmärchen und die Klischees. Wäre sie noch ärmer gewesen, wenn sie Kieran Green nicht getroffen hätte? Das ist die Frage - ein gebrochenes Herz oder ein unberührtes? Was ist besser? Vielleicht hatte Mr. Phipps Recht damit, dass dieser Ire das Schlimmste war, was ihr passieren konnte. Oder vielleicht hatte sie Recht - sie hatte Glück gehabt. Vielleicht ist es nicht so schlecht, von der Erinnerung an eine alte Liebe nicht losgelassen zu werden - es heißt zumindest, dass man eine solche Liebe gehabt hat. Den Blick zum Tor-y-gwynt hinaufzurichten und an einen Nachmittag mit ihm, einer warmen Decke und einer Sechserpackung Bier zu denken, ist vielleicht der Inbegriff des Glücks.
Ich jedenfalls kann mich glücklich schätzen. Der Eintrag hat das Datum 1. April 1969. Sie hat es mit roter Tinte geschrieben und zweimal unterstrichen.
1. April. Und genau neun Monate dazu.
Wolken, Lämmer, Bussarde, und ich wurde an jenem Tag gezeugt.

Ich denke darüber nach. Ich bin zum Tor hinaufgegangen und habe sie mir dort vorgestellt, wie sie auf der Westseite liegen, halb versteckt vor fremden Blicken. Sooft ich hinaufgehe, lehne ich mich gegen die Granitfelsen und halte mir das Haar zurück. Ich frage mich, wie sehr sich die Aussicht verändert hat, seit sie hier waren, seit ich gezeugt wurde. Nicht sehr, denke ich. Es sieht aus, wie es immer aussah.
Siehst du? Auch meine Mutter hatte etwas übrig für die Liebe im Freien. Nicht nur ich. Und ich hatte mir meine Meinung gebildet, lang bevor ich von ihrer wusste. Vielleicht ist das typisch für Mädchen vom Land. Andererseits erinnere ich mich auch recht gut an eine Zeit in Birmingham, lange ist es her, als ich von den Bahngleisen nach Hause gelaufen war - ich sehe mich noch mit meinen am Band fliegenden Fäustlingen vor mir - und Geschichten von schlaffen, feuchten Ballons dahergeplappert hatte. Also hatten auch Stadtmädchen manchmal etwas für die Liebe im Freien übrig. Aber ist nicht ein Berg in Wales besser als ein Eisenbahntunnel voll von Abfällen und Dieselgestank? Ist nicht der Wind die allerbeste Begleitung?
Sollte mein Kind sich als Teenager oder später je an mich wenden und fragen: Mum, wo wurde ich gezeugt?, wird meine Antwort weniger romantisch sein. Ich werde sagen: In einem Bett in Wales, spät in der Nacht, und es war eine ganz einfache Geschichte. Es war ruhig auf dem Hof, draußen herrschte Frost, und hinterher hat er geschlafen. Keiner von uns beiden hat am nächsten Morgen erwähnt, was nahe liegend war. Es blieb unausgesprochen, aber ich glaube, wir wussten es beide. Ich erinnere mich noch, wie ich mich tags darauf auf dem Markt gegen die Stäbe eines Schafpferchs lehnte und wusste - wusste -, dass nicht mehr ich allein da stand. Unter meiner Fleecejacke, dem löchrigen Pullover und dem gestreiften Hemd, das Daniel mir geliehen hatte, wurde ich mir plötzlich eines dunklen kleinen Raumes bewusst, in dem jetzt ein Mensch lebte.
Als ich es ihm sagte, fragte er nicht: Von wem ist es? oder Bist du sicher? Er fuhr mir bloß mit den Händen durchs Haar, küsste mich und sagte: Wir werden das gut machen.

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 14.09.2005