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Ich kümmerte mich weniger um das, was offensichtlich war, sondern achtete mehr auf die Feinheiten. Ich presste meine Finger gegen die Backenknochen, zog meine Unterlippe herunter, um die Adern in der Schleimhaut zu sehen. Ich spürte, wie kräftig manche Teile meines Körpers waren, wie zerbrechlich andere. Ich studierte die Form meiner Augenbrauen, ihre Dichte, die Höhe meiner Stirn, guckte, ob meine Ohren abstanden oder nicht.
Wie oft schaut man in den Spiegel, um dort das Bild eines anderen zu entdecken? Im Allgemeinen tun wir das nicht. Aber in dieser Nacht tat ich es. Und ich wusste plötzlich, dass alles, was mir nicht vertraut war, von ihm kam - die tiefe Rille zwischen Nase und Oberlippe; die breiten Hände; die vorstehenden Schlüsselbeine. Und die Größe natürlich - seit meiner Ankunft in Pencarreg war ich zehn Zentimeter gewachsen. Und meine Haare auch. Wenn sie nass waren, reichten sie mir bis über die Schultern.

Wirkliches Interesse am Spiegel habe ich nur ein einziges Mal noch gehabt, und das war zweieinhalb Jahre später.
Es hatte damit angefangen, dass ich mich um die Mittagszeit krank fühlte. Ich hatte mich mit meinem Blechtablett ums Essen angestellt, als mein Magen sich plötzlich zusammenkrampfte. Ich nahm an, dass es vom Hunger kam. Aber am Ende des Schultags waren die Schmerzen schlimmer geworden. Ich saß im Bus und hatte die Knie ans Kinn gezogen. Würde ich erbrechen müssen? Würde ich sterben müssen? Wuchs eine Krebsgeschwulst in mir und entfaltete sich wie eine seltsame dunkelrote Rose?
Ich trug einmal im Monat dunkle Hosen und entwickelte eine beachtliche Fähigkeit darin, auf dem Klositz stehend, den Arzneischrank zu erreichen. Aber ich müsste lügen, wenn ich sagen wollte, dass es keine Auswirkung auf mich hatte. Ich begann Gerry mit anderen Augen zu sehen. Ich dachte an Rosie; ich kam mir seltsam weise vor. Es gab Momente, in denen ich gerne mit jemandem darüber gesprochen hätte, gerne an einem Ärmel gezupft und in ein Ohr geflüstert hätte, aber wer sollte das sein? Es wäre Sache meiner Mutter gewesen, das Geheimnis zu erklären. Drei Jahre war das jetzt her, und ich hatte geglaubt, ich hätte inzwischen besser gelernt, sie nicht so zu vermissen.
Als meine Großmutter es dann schließlich an der Zeit fand, hat sie ihre Sache gut gemacht. Sie fuhr mit mir nach Lampeter, lud mich zu heißer Schokolade und Marshmallows ein und kaufte eine Tüte voller Frauensachen in der Drogerie für mich. Sie beschränkte sich allerdings zunächst auf die notwendigsten Erklärungen. Denk dir, es ist ein alter Freund, sagte sie; ein bisschen lästig manchmal, aber ohne ihn wären wir verloren.
Um der Genauigkeit willen muss ich erwähnen, dass meine Brust bis vor etwa drei Monaten flach wie ein Pfannkuchen blieb. Erst die Schwangerschaft hat mir ein bisschen Figur gegeben - was natürlich pure Ironie ist, denn den meisten Frauen nimmt sie die Figur. Ich hatte pro forma ein paar BHs als Teenager, aber sie waren reichlich überflüssig. Manchmal schämte ich mich. Manchmal wünschte ich mir, ein Mann würde mehr unter meinem Top finden als zwei verschämte rosa Brustwarzen. Aber andererseits konnte ich wenigstens ungehindert dem Bus nachlaufen. Und es war mir nichts im Weg, wenn ich ein Luftgewehr abfeuerte oder mich auf einen Baum schwang.
Und nichts, was mir hätte wehtun können, wenn ich mich ins Farnkraut fallen ließ, um mich vor den Händen zu verstecken, die - da bin ich sicher - Rosie wehgetan hatten und auch mir noch wehzutun versuchen würden.

Am nächsten Tag wurde oben am Tor-y-gwynt ein Rollschuh gefunden; unter einem Streifen Moos, der sich gelöst hatte, um seinen verborgenen Schatz preiszugeben. Er war den Suchenden entgangen. Oder vielleicht war er erst nachher dort versteckt worden. Das Dorf summte erregt wie eine Wespe unter einem umgestülpten Glas.
»Mein Gott«, sagte meine Großmutter und stützte den Kopf in die Hände. An diesem Abend umklammerte sie mich und hielt mich fest, als wäre ich die Verschwundene.
Und Mrs. Maddox winkte mich in ihr rosa Haus, als ich vorbeikam, und flüsterte: Jetzt dauert es nicht mehr lange. Verlass dich drauf. Sie werden den Kerl finden, bevor die Woche zu Ende ist.

Blick aufs Meer

Bin ohne zu zahlen mit dem Bus bis Aberystwyth gefahren. Links vom Landesteg ist eine Telefonzelle, die ich jetzt sehr gut von innen kenne. Ende März, also keine Touristen. Ich zeigte ihm das elegante blaue Haus an der Strandpromenade, das mir so gefällt, und er sagte, wenn ich reich bin, werde ich es dir kaufen.

Ende März? Das Ende einer Ära für die beiden.

Kopfschmerzen
Wo würde ich eine Leiche verstecken? Wenn ich plötzlich mit einer Leiche in den Armen dastünde und sie verstecken wollte, was würde ich tun? Ich habe darüber nachgedacht. Eine Weile haben wir ein Spiel daraus gemacht, Gerry und ich. Wenn uns im Unterricht langweilig wurde, begannen wir miteinander zu tuscheln. Wir kritzelten mit Tinte Theorien aufs Papier und schoben sie einander zu wie Pläne. Ein Beweis dafür, dass es wahrscheinlich nicht so schwer wäre, einen Leichnam zu verstecken, wenn man die Gegend kannte und schlau war.
Die Sümpfe. Es gibt viele hier. Sogar bei heißem Wetter müssten sie breiig genug sein, um einen Leichnam relativ schnell zu verschlucken. Und da keine Luft dazu kann, würde ihn das Moor konservieren. Rosie könnte bis heute, einundzwanzig Jahre danach, immer noch intakt sein, immer noch hübsch, mit pfirsichfarbener Haut, Torfklumpen im Haar.
Und es gibt auch Seen von unbekannter Tiefe hier. Niemand hat sie je ausgemessen. Niemand ist je weit genug hinuntergetaucht, um zu sehen, wie schwarz und kalt das Wasser da unten ist, aber jeder weiß, dass sie nicht seicht sind. Man hätte Rosie zu einem Bündel verschnürt in einen der Seen einige Meilen von hier werfen können - in den Llyn Berwyn etwa oder den Tyn-y-llyn. Mit Ziegelsteinen beschwert, um sicher zu gehen, dass sie nicht an die Oberfläche treibt und die Beine von Schwimmern streift.
Und dann gibt es Wälder, die kein Mensch je betritt, es gibt die stillgelegten Minen und gewaltige Strecken von Land, über die nur die Schafe trotten. Die Straße zu den Teifi-Teichen ist unendlich lang - mein Wagen rüttelt Meile um Meile den Weg entlang, zwischen windgepeitschtem gelbem Bültegras und Findlingen. Eine trostlose Gegend. Hier geht immer ein starker Wind. Bei diesen Teichen habe ich meine eigene Einsamkeit mehr als anderswo gespürt; ich habe sie über das Wasser flattern sehen wie einen fremden Vogel. Man hätte Rosie unter einen Felsen legen und dort liegen lassen können, und höchstens die Schafe hätten sie gefunden.
Also sollten wir vielleicht nicht überrascht sein. Und wir sollten Inspektor Gregory und seinem Team vielleicht keinen Vorwurf daraus machen, dass sie den Fall nicht klären konnten, sie nicht gefunden haben, denn diese Gegend hat geheime Nischen und versteckte Türen. Ich habe mit meinem Großvater darüber gesprochen. Eines Abends rollte ich mich auf dem Sofa neben ihm zusammen und sagte: »Wo, glaubst du, ist sie?« Er hatte keine Antwort darauf. Wir saßen eine Weile schweigend da, und ich war froh, hier zu sein, in unserem Wohnzimmer, im Warmen und Trockenen.

Auch Billy habe ich diese Frage gestellt.
Er pflückte gerade wilde Erdbeeren von den Pflanzen, die sich vor der Scheune aneinander drängten, und ich saß mit an die Brust gezogenen Knien da und sah ihm zu. Der Tag war furchtbar heiß gewesen. Ich spürte, dass ich feucht war unter den Armen, und zupfte an den Ärmeln meiner Schultracht. Aber er trug immer noch seine Wachsjacke. Seine Hände zitterten ein wenig beim Pflücken. Manche der Beeren waren noch weiß, hart wie Knöpfe, und die ließ er stehen. Er interessierte sich nur für die roten. Er reichte mir ein paar. »Iss«, sagte er, und ich aß.
»Aber es ist doch komisch«, sagte ich, »findest du nicht? Sie muss auf unserem Land gewesen sein, wenn ihr Rollschuh dort war. Aber ich hab sie nicht gesehen. Wir mussten am Tor-y-gwynt vorbei, Daniel und ich, als wir vom Baden zurückkamen. Wir sind direkt dran vorbei. Und da war niemand. Findest du das nicht komisch?«
»Kann sein, dass ihn jemand da hingetan hat«, murmelte er.
»Ein ziemlich langer, steiler Weg«, sagte ich, »nur um einen Rollschuh zu verstecken.« Ich zuckte mit den Achseln. »Außerdem gibt es bessere Plätze.«
Wir trugen unseren Vorrat von der Scheune in den Schatten der Buchen. Es roch nach Füchsen. Die wilden Erdbeeren waren eine feine Sache. Sie schmeckten wunderbar. Ein Genuss.
»Waren es beide Rollschuhe«, fragte Billy, »oder nur einer?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nur einer. Aber warum da oben? Was meinst du?«
»Es ist seltsam da oben.«
»Seltsam? Wieso?«
Er erzählte mir die Geschichte von dem Landarbeiter aus Caio, der drei Tage da oben verbracht hatte und krank geworden war. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 13.09.2005