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Als ob ich auf ihn hören würde! Ausgerechnet auf ihn! Vielleicht sollte Mr. P mir Leid tun. Vielleicht sollte ich einmal seine Einladung auf einen Drink oder ein Abendessen annehmen und mir seinen Kummer anhören É Vielleicht auch nicht!
Im Regen sehen KÕs Haare wie Federn aus. Ich liebe das.
Über solche Dinge schreiben die Menschen.

Blut
Mr. Phipps war also keiner von der hilfreichen Sorte. Billy hatte mich mit dieser Neuigkeit kaum schockiert - ich wusste das längst. Mrs. Maddox war einmal eine Minute nach fünf in seinen Laden gekommen, und er hatte sich geweigert, noch einmal für sie aufzusperren - nicht gerade nachbarliches Entgegenkommen. Weihnachten ignorierte er. Wenn Weihnachtslieder gesungen wurden, machte er ein böses Gesicht, sein Schaufenster war nie festlich beleuchtet und seine Tür nie mit einem Kranz geschmückt. Und wenn ein Mädchen aus dem Dorf verschwand und man eine Entführung vermutete, weigerte er sich, bei der Suche zu helfen. Was für ein Mensch tut so etwas? Wer bringt das fertig, den Gedanken an einen Kindesmord mit einem Achselzucken abzutun, als würde so etwas alle Tage passieren? Außerdem war er gemein zu meinem Freund - meinem scheuen, müden, verletzten Freund. Ich glaube, das war der Hauptgrund dafür, dass ich ihn so hasste.

Am nächsten Tag ging ich in seinen Laden und fand ihn leer vor. Es war kühl drinnen, kühl und dunkel, und ich stand auf der Türschwelle und hielt den Atem an. Es war nichts zu hören. Kein Mr. Phipps zu sehen.
Leise trat ich ein. Es war unheimlich - Staub tanzte in den einfallenden Streifen von Sonnenlicht, und eine Fliege stieß gegen die Scheiben. Ich sah ihr ein paar Sekunden zu. Sie würde hier sterben. Wenn nicht durch Erschöpfung, dann unter einem Buch, mit dem irgendwer nach ihr schlagen würde, und ich fragte mich, ob sie das wusste. Fliegen sind so hässliche, dumme Geschöpfe. Sie setzen sich auf Kuhfladen und fliegen in die Flammen des Kamineinsatzes.
Ich schlich zum Ladentisch und guckte drüber. Er war nicht da. Und er war auch nicht hinten im Laden, um die Regale aufzufüllen. Ich runzelte die Stirn. Wo war er dann? Vorsichtig ging ich den Gang entlang.
Ich hörte nichts außer der Fliege.
»Schau, schau.«
Er stand in der Tür mit einem Karton in den Armen. Ich konnte sein Gesicht kaum sehen, weil das Licht hinter ihm war, aber es war nicht schwer zu erraten, wie er mich ansah. Kopf zur Seite geneigt, Augen zusammengekniffen.
»Ich möchte einen Eislutscher kaufen«, sagte ich.
Er musterte mich. »Du hast eine Minute«, antwortete er.
Schweigend beschäftigten wir uns. Er packte den Karton aus, während ich im Gefrierschrank herumwühlte. Meine Hände wurden taub.
»Fünfzig Pence«, sagte er.
Ich zählte ihm das Kleingeld in Pennys auf den Ladentisch.
»Wir haben wohl einen Sonnenbrand, was?«
Ich sah ihn mit gerunzelter Stirn an und schaute, ob meine Arme gerötet waren. »Nein.«
Er nahm mein Geld, ließ es in die Kasse fallen und knallte die Lade zu. »Sieht aber so aus.«
»Gar nicht wahr.«
»Hm!«
»Warum hassen Sie mich?«
Das war schlau von mir, obwohl ich es damals nicht wusste. Direkte Fragen haben große Macht. Sie können die Menschen aus dem Gleichgewicht bringen. Sie können bewirken, dass ihnen die Kinnlade herunterhängt und sie nach Luft schnappen. Wäre Mr. Phipps ein normaler, fühlender Mensch gewesen, hätte ihn die Frage aus der Fassung gebracht. Er wäre nervös geworden und hätte gesagt: Was? Dich hassen? Ich?
Aber nicht er. Er sagte: »Weißt du das nicht?«
»Wenn ich es wüsste, würde ich nicht fragen, oder?«
Er beugte sich über den Ladentisch, so dass seine geplatzten Adern, seine gebrochene Nase, seine feuchten Lippen, seine Bartstoppeln und der ekelhafte Geruch aus seinem Mund ganz dicht vor meinem Gesicht waren, und sagte: »Kieran Green war das Schlimmste, was Cae Tresaint passieren konnte. Und was Bronwen passieren konnte. Was ist denn geworden aus ihr? Was ist denn geworden aus ihrem Glück? Und da stehst du mit seinem Gesicht und seinen Worten und fragst mich, warum ich dich nicht in meinem Laden haben will. Nach allem, was er getan hat. Schau, dass du rauskommst.«
»Was?«
»Verschwinde!«
»Warum? Was hab ich getan?«
»TreibÕs nicht zu weit.«
Ich ging zur Tür.
Vielleicht habe ich mir das, was danach geschah, nur eingebildet. Aber als ich auf die Straße hinaustrat, war ich sicher, Mr. Phipps murmeln zu hören: Schade, dass du es nicht warst.
Ich drehte mich um.
Er hatte mir den Rücken zugewandt. Ich stand da und starrte auf sein feuchtes Hemd, den kahlen Fleck auf seinem Hinterkopf. Hatte ich richtig gehört? Hatte er das wirklich gesagt? Ein bitteres Gefühl stieg in mir hoch, brach sich seinen Weg wie der über Steine sprudelnde Brych. Er schien meinen Blick zu spüren, denn sein Körper spannte sich. Hatte er gewollt, dass ich es höre? Oder hatte er geglaubt, dass ich weg sei? Seine Hände hielten in ihrer Tätigkeit inne, er drehte den Kopf halb herum. War das Angst? Aber wie konnte er Angst haben vor einer Achtjährigen, die in Shorts und grasbeflecktem T-Shirt mit einem Eislutscher in der Hand vor seiner Tür stand?
Was für ein Feigling dieser Mann doch war. Alles, was er je getan hat, ist hinterhältig, abgefeimt und rückgratlos gewesen. Ich bin nicht gewalttätig, ganz gewiss nicht jetzt, aber ich bin, noch während ich diese Zeilen schreibe, davon überzeugt, dass er alles verdient hat, was ihm je widerfahren ist. Er hat den Schaden verdient, den Kieran ihm zugefügt hat - die eingeschlagene Nase, die Erniedrigung. Und er hat, bis zu einem gewissen Grad, auch die wohl überlegte Rache verdient, die ich ihm schwor und innerhalb der nächsten Tage in die Tat umsetzte.

Wo ist Mr. Phipps jetzt? Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal. Ich stelle mir einen Häuserblock mit Seniorenwohnungen in einer langweiligen Stadt im Süden vor. Eine Wohnung im Erdgeschoss - kein Licht, keine Besucher. Ich stelle mir vor, wie er das Telefon anstarrt und sich vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben fragt, warum es nicht läutet. Ich möchte nicht herzlos klingen - und ich wünsche niemandem Einsamkeit, am wenigsten den Alten. Aber er war grausam. Ihm hat nie etwas Leid getan. Ich gebe ihm für fast alles die Schuld.
Er hat mir Billy genommen. Er hat meine Großmutter zum Weinen gebracht. Er hätte ebenso gut meine Hand nehmen und selbst in die Flammen halten können, denn dieses Feuer war seine Schuld - seine. Er hätte bestimmt seine Freude daran gehabt - spürst du das? Kierans Tochter? Spürst duÕs? Es war seine Entscheidung. Er hat das Streichholz angerissen, und ich weiß es.
Ich habe ihn jahrelang gehasst. Niemanden sonst habe ich je mit solcher Kraft und Hingabe und Inbrunst gehasst, mit der ich Mr. Phipps im Lauf der Zeit hassen lernte. Ich spuckte auf das Schaufenster seines Ladens. Ich machte ihn allen gegenüber schlecht, funkelte ihn mit bösen Blicken an und bestahl ihn, sooft ich konnte. Dieser Hass ist inzwischen schwächer geworden - ich weiß jetzt, dass es keinen Sinn hat zu hassen, denn es ist zwecklos und ermüdend. Lass die Vergangenheit ruhen, würde mein Großvater sagen. Und daher tut Mr. Phipps mir heute nur noch Leid. Ich glaube, dass er ein trauriger, einsamer Mann mit einer leeren Seele ist, ein Mann voller Groll. Wahrscheinlich ist er ein bisschen verrückt. Und sicher hat auch ihm irgendetwas irgendwann das Herz gebrochen.

Ich drehte mich noch einmal um schaute zurück zu Mr. PhippsÕ Laden, bevor ich mich auf den Heimweg machte. Die Luft war stickig, und die Anschläge mit Rosies Foto wellten sich bereits ein wenig in der Hitze. Nimm dich in Acht, dachte ich. Ich würde mich verteidigen, ich würde ihn bestrafen. Nicht in der Weise, wie ich das Mädchen in der Kantine bestraft hatte, denn ich hatte Daniel versprochen, dass ich nie wieder Gewalt anwenden würde - zuschlagen war verboten, das hatte ich geschworen, und ich würde nie ein Versprechen brechen, das ich ihm gegeben hatte. Aber ich wusste, mir würde etwas einfallen.
Ich war so ins Pläneschmieden vertieft, dass ich die Schritte überhörte, die mir bergan folgten. Erst beim Viehgatter spürte ich etwas. Doch als ich mich umdrehte, sah ich nur eine leere Straße und unsere stillen Linden, sonst nichts.

In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen.
Ich schlich hinüber ins Badezimmer und drehte leise das Licht an. Unser Spiegel war klein und an einer Ecke oben gesprungen. Er war voller weißer Spritzer vom Zähneputzen und voll von meinen fettigen Daumenabdrücken. Nicht, dass ich oft in den Spiegel geguckt hätte. Es hatte sowieso keinen Zweck. Spiegel oder nicht, mein Haar war immer noch nicht zu bändigen und meine Haut immer noch fleckig.
In dieser Nacht aber drehte ich mich langsam von einer Seite zur anderen und inspizierte mich.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 12.09.2005