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Ich hatte eine Hand auf dem Gatter, das Buch an mich gedrückt.
»Brauchst du Hilfe?«, sagte er.
Ich habe nicht ja gesagt.
Ich habe nicht ja gesagt.
Er legte mir die rechte Hand auf die Schulter. Und als ich ein Bein hob, um über das Gatter zu klettern, ließ er sie meinen Rücken hinuntergleiten. Ich spürte, wie sie sich hinunterschob, über das Grübchen am Ende der Wirbelsäule und tiefer. Zwischen meinen Beinen blieb sie liegen. Er hob mich ein wenig hoch. Sein Atem war heiß auf meinem Arm.
Die Hand drückte. Ich spürte es. Die Finger wurden hart, krümmten sich. Ich ließ mich auf die andere Seite des Gatters fallen. Ich wirbelte herum.
Sein Blick lag auf mir. Flaschengrün, katzengrün, grasgrün, giftgrün. Grün für geh! Geh! Lauf! Lauf fort! Er kletterte schon über den Zaun, um zu mir zu kommen, und ich wollte das nicht.
Ich rannte los, den Weg hinauf, fort von ihm. Ich schaute nicht zurück, aber irgendwie wusste ich, dass der Blick dieser Augen mir folgte, beobachtete, wie ich in meinem zu klein gewordenen T-Shirt und meinen zu klein gewordenen Shorts zwischen den Büschen davonlief.
Auf der abendlichen Wiese grasende Kaninchen hielten im Fressen inne und stoben davon.
Beim Laufen dachte ich: Warum musstest du weggehen, Mum?

Das war es also. Genau das ist geschehen. Nicht viel, mag mancher vielleicht sagen. Vielleicht ist es in meiner Erinnerung schlimmer, als es war. Aber das ist nun zwei Jahrzehnte her, und ich kann immer noch seine Hand da spüren. Wie ein Kuss, um den ich nie gebeten hatte, haben seine Finger mich geöffnet.

Ich weiß, das ist kein ausreichender Beweis. Diese Tat, wie schrecklich auch immer, ist kein Akt der Entführung. Ein stummes Befummeln in einer Gasse ist nicht dasselbe - nicht annähernd dasselbe - wie das Entführen, Verstecken und Umbringen eines Mädchens. Nicht annähernd. Und es ist gut möglich, dass der Mann mit den grünen Augen, der es sich zwar zu Schulden kommen ließ, mich zu berühren, wo, wie ich wusste, keines Mannes Hand etwas zu suchen hatte, ganz unschuldig ist am Verschwinden von Rosemary Hughes. Ich erkenne das an. Ich verstehe es. Man darf niemandem etwas unterstellen.
Aber was für ein Zusammentreffen. Auch das muss man bedenken. Was für ein unheimliches, verdächtiges, unwahrscheinliches Zusammentreffen, dass es in ein und demselben kleinen, abgeschiedenen Dorf zwei Männer - zwei! - geben soll, die solch unsagbare Dinge denken und tun. Ist das nicht unglaublich? Oder bin ich naiv? Damals lebten weniger als hundert Menschen in Cae Tresaint, und zwei davon wollten kleine Mädchen. Wie sieht es da mit der Wahrscheinlichkeit aus? Eins zu tausend? Eins zu einer Million?
Ich hätte mich wehren sollen. Ich hätte mein Daniel gegebenes Versprechen brechen und auf ihn losgehen sollen. Ein Kratzer, ein Biss - irgendetwas, was er der Polizei nur schwer hätte erklären können, worauf sie mit hochgezogenen Augenbrauen reagiert hätten. Ich bin über eine Wurzel gestolpert. Ich bin in einen Zweig hineingelaufen - autsch! Wäre irgendetwas anders, wenn ich es getan hätte? Wäre Rosie auf dem Friedhof von St. TysulĂ•s begraben? Würde ihre Mutter noch leben?

Ich stolperte heim in den Zorn meiner Großmutter. Die Luft in der Küche dampfte davon. Sie packte mich bei den Ellbogen und fragte mich, was mir einfiele, warum ich ihr das antäte? Ich ließ sie schreien. Ich ließ mich von ihr schütteln wie eine traurige Lumpenpuppe. Ich hörte ihr kaum zu - ich war ein Wesen ohne Kopf, Herz und Bauch. Alles an mir war empfindungslos, taub, fast tot.
»Dir hätte wer weiß was passieren können!«, schrie sie. »Beinah hätte ich die Polizei geholt! Hörst du, Fräulein? Die Polizei! Warum hältst du dich nicht an die Regeln? Warum?«
An diesem Abend erfuhr ich, dass Mr. Phipps entlassen worden war. Sie hatten keine Anklage erhoben. Wie sich herausstellte, hatte er ein Alibi. Mrs. Jessop hatte mit erhobenen Händen verkündet: Ja, an dem Nachmittag, an dem Rosie zum letzten Mal gesehen worden sei, habe sie ihn dabei gesehen, wie er mit Essig und Zeitungspapier sein Schaufenster putzte. Also konnte er es nicht gewesen sein. Sie haben den falschen Mann, Herr Chefinspektor.

Ich ging mit Bauchschmerzen zu Bett. Ich drückte Hund an mich und rollte mich unter der Decke zusammen. Ich versuchte, mich an mein altes Zimmer in Birmingham zu erinnern, mein altes Leben in der Stadt, aber ich sah nichts anderes als zwei grüne Augen.
Zwei grüne Augen, wie ich sie im Nadelwald gesehen hatte, auf den Märkten. Zwei grüne Augen, die dem Mann gehörten, für den ich beinah das Auto gewaschen hätte. Dem Mann, der vor sechs Monaten vor Mr. PhippsĂ• Laden im Nieselregen einen unsichtbaren Hut gelüftet und gesagt hatte: Evangeline, nicht wahr?
Trotz der Hitze machte ich in dieser Nacht das Fenster zu.
Ich hatte mich geirrt: Rosie und ich hatten zwei Dinge gemeinsam, nicht nur eines. Wir liebten denselben Mann, ja. Aber ich glaube, wir kannten auch dieselbe weiße Hand. Dieselben Finger hatten uns erkundet; dieselben Augen hatten uns von oben bis unten gemustert. Der Unterschied ist nur, dass er mich laufen ließ. Für mich lohnte es sich nicht, ich war ihm das Risiko nicht wert, erwischt zu werden.

Liebe
In unserer Obstschale liegen Birnen aus dem Garten des Reverends. Ich sehe sie, während ich hier sitze und schreibe. Schön sind sie - gelb mit braunen Tupfen, geformt wie eine Glühbirne und glänzend. Sie müssen gegessen werden - wenn ich mit dem Finger hineindrücke, bleibt eine Delle zurück. Das Fleisch müsste herrlich weiß sein beim Hineinbeißen. Saftig und körnig auf der Zunge. Mit ihrem breiten Hinterteil machen Birnen die unglücklichste Figur unter den Früchten. Ich habe das Gefühl, dass sie leicht verlegen in meiner Hand liegen. Mein Großvater aß sie immer ganz, samt Kerngehäuse, so dass nichts übrig blieb als der Stängel, und ich hatte immer geglaubt, dass eines Tages ein kleiner Birnbaum in ihm zu wachsen beginnen würde. »Vielleicht«, hatte er mit einem Zwinkern gemeint, »ich halt dich auf dem Laufenden, cariad.«

Ich habe nie einer Menschenseele erzählt, was bei dem Gatter passiert ist. Ich fühlte mich im Unrecht. Ich hätte nicht dort sein dürfen. Ich hätte so viele eigenwillige Dinge nicht tun dürfen. Erst vor kurzem habe ich es über mich gebracht, wieder dort hinzugehen. Das war im letzten Winter, ein paar Tage, nachdem ich erfahren hatte, dass ich ein Kind erwarte. Ich saß dort in der Kälte, blies mir auf die Hände und machte endlich meinen Frieden mit dem Ort. Ich fühlte mich stark, als ich wieder ging, und war glücklich.
Und ich bin an dem Tag auch zur Polizei gegangen - nach zwei Jahrzehnten und mit einem winzigen neuen Leben in mir - und habe schließlich doch jemandem von dem Mann mit den grünen Augen erzählt. Alles, was ich wusste, was nicht wirklich viel war. Aber ich habe es getan. Ich habe es getan, und als ich wieder auf die Straße trat, hatte es zu schneien begonnen. Endlich hatte ich mein Geheimnis ausgegraben und weitergereicht. Sollen sie sich darum kümmern.
Gerry hat einmal in einer vertrauensselig beduselten Stimmung zu mir gesagt, dass alles auf die Liebe hinausliefe. Ich stellte das in Frage. Ich sagte, das klinge, als wäre die Welt perfekt, was sie doch gewiss nicht sei. Er schüttelte nur den Kopf. »Ich glaube«, sagte er, »das ist der wirkliche Beweggrund hinter allem, was wir tun. Punktum.«
Er hat nie an die Entführungstheorie geglaubt. Er hat sich einfach geweigert. Wenn wir als Teenager durch die Straßen spazierten oder auf der Hauptstraße ein Auto anhielten, erstarrte er manchmal ganz plötzlich und hielt sich die Hände an den Bauch, als hätte er Schmerzen. Oder er zuckte vor einer Amsel im Gebüsch zurück. Er wollte glauben, dass Rosie uns alle zum Narren gehalten hatte, dass sie aus Liebe fortgelaufen war und irgendwo lebte und atmete und glücklich war. So ein Idealist. Manchmal verlor ich die Geduld mit ihm. An einem Abend, nicht lange bevor ich nach Swansea ging, hätte ich ihm beinahe von jener Hand auf Abwegen erzählt. Erklär mir das, hätte ich ihn gern angeschrien. Was hat das mit Liebe zu tun? Siehst du denn nicht ein, dass du dich irrst? Aber ich tat es nicht, sondern spottete nur über seine Naivität. Wir kamen ins Streiten. Ich stürmte aus dem »Weißen Hirschen«, und er folgte mir bis hinauf zum Hof. Er ging schwerfällig, konnte nicht mehr klar sprechen, aber ich hatte mich auf dem Weg nach Hause abgekühlt und verstand ihn eigentlich ganz gut. Wie alle, war auch er in Rosie verliebt gewesen. Da war ich sicher. Und er fragte sich bei jedem Schritt, worauf er ging. Als ich ihn ins Haus ließ, hielt er sich an meinen Haaren fest und sackte an mir zusammen. Meine Großeltern ließen ihn in dieser Nacht auf dem Sofa schlafen.
Aber vielleicht hat er in gewisser Weise Recht. Die Liebe, murmelte er mir ins Schlüsselbein, sei etwas sehr Komisches. Und ist das nicht wahr? Was tun wir nicht alles aus Liebe! (wird fortgesetzt)

Artikel vom 21.09.2005