12.09.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Mathias Richling am 10.9.2005 im WDR-TV

»Schröder droht: Wenn ihr mich
nicht wählt, trete ich am 18.9. zurück.«

Leitartikel
Wahlkampf-Phase Rot

Groß oder klein, was darf es sein?


Von Rolf Dressler
Mediendemokratie ist schon eine wundersame Veranstaltung. Ihre Leit-Darsteller drehen den Wetterhahn hoch droben am TV-Satellitenhimmel so rasch und unvermittelt hin und her, dass die heftig umworbene Wählerschaft hier unten kaum mehr mitkommt.
Genau das erlebt gegenwärtig, stark zugespitzt bis überhitzt, aus nur einem Grund der gemeine Deutsche: Am 18. September soll er über die Sitzverteilung der Parteien im Deutschen Bundestag entscheiden - und mithin darüber, wer unser 82-Millionen-Völkchen in den nächsten vier Jahren regieren darf.
Verwundert aber reibt man sich die Augen. Denn zu vieles will ganz einfach nicht zusammenpassen, lockt das für Ab- und Umlenkung offenbar ziemlich anfällige Publikum auf oftmals grotesk falsche Fährten.
Ein besonders frappierendes Beispiel: Letzte Woche gab SPD-Kanzler Gerhard Schröder per Interview-Rundruf kurzerhand die Parole aus, dass die Wechselstimmung im Lande »D« angeblich verflogen sei. Zwar war diese zweifelhafte Erkenntnis auch durch taufrische Meinungsbefragungen nicht gedeckt. Trotzdem nahmen zig Millionen WahlbürgerSchröders Behauptung unbesehen flugs für bare Münze. Denn in ihren Ohren klang sie wohl wie von höchster Stelle beschlossen und verkündet: Wenn der Kanzler das sagt, dann muss ja wohl 'was dran sein.
Ganz ähnlich auch die seltsamen Widersprüchlichkeiten beim durchsichtigen Schwadronieren über die angebliche Wünsch-dir-was-Stimmungslage in Sachen Große Koalition. In einzelnen Meinungserhebungen bekundeten zwar bis zu 40 Prozent der Be- fragten, SPD und CDU/CSU sollten nach dem 18. September und der möglicherweise ausschlaggebenden Nachwahl in Dresden am 2. Oktober die Regierungsgeschäfte gemeinsam übernehmen. Aber bis zu zwei Drittel halten ein solches Bündnis ausdrücklich für einen Notbehelf, der Land und Leute nicht wirklich voranbringen und ohnehin nicht von längerer Dauer sein werde.
Doch ficht auch dieser Sachstand viele Politiker und Pressekommentatoren überhaupt nicht erkennbar an. Anscheinend ungerührt reden und schreiben sie vielmehr sogar davon, dass die Große Koalition für die Jahre 2005 bis 2009 angeblich die absolute Wunschformation der Bürgermehrheit sei.
Richtunggebend beispielsweise die »Frankfurter Rundschau« vom 10./11. September 2005: »Würde morgen gewählt, wir bekämen wohl das, was die Meinungsforscher ohnehin als Lieblingskon- stellation der befragten Bürger ermitteln: eine Große Koalition aus Union und SPD ...«
Derweil zieht der Kanzler frohgemut weiter seine Wahlkämpfer-Bahn und genießt die Belobigungen etwa der »Süddeutschen Zeitung« vom Samstag. Ganzseitig in Wort und Bild ließ sie »Gerhard Schröders Leben als Staatsschauspieler« (!) Revue passieren.
Ob er die Unterzeile »Rauf auf die Weltbühne und wieder runter« gewohnt locker überlesen hat?

Artikel vom 12.09.2005