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EU verschärft Kurs gegen Berlin

Brüssel hält dieses Jahr deutsches Defizit von vier Prozent für möglich

Manchester/Berlin (dpa). Die EU-Kommission will das auf Eis liegende deutsche Defizit-Strafverfahren im November wieder aufnehmen. Dies könnte auf Sanktionen gegen Deutschland hinauslaufen.
Das wurde am Freitag in Manchester am Rande von Beratungen der Finanzminister des Euro-Gebietes zuverlässig aus EU-Kreisen bekannt. Das deutsche Defizit dürfte dieses Jahr nicht - wie von der Bundesregierung angenommen - bei 3,7 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt liegen, sondern sogar zwischen 3,9 Prozent und 4,0 Prozent. Das befürchtet die EU-Kommission.
Das Bundesfinanzministerium sprach von Spekulationen. »Es gibt im Moment für niemanden eine Veranlassung, über ein höheres Defizit zu spekulieren«, sagte ein Sprecher des Finanzministeriums. Die deutsche Defizitquote von 3,7 Prozent sei erst kürzlich an Brüssel übermittelt worden.
Es gebe keine neuen Daten, auf die man sich beziehen könne. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) will sich generell auf keinen Zeitpunkt für die Einhaltung des Euro-Stabilitätspaktes festlegen. »Das hängt ab davon, wie sich die Wirtschaft wirklich entwickelt«, sagte Schröder.
Die Union sieht eine »Blamage der deutschen Finanzpolitik«. Die Zweifel der EU-Kommission an den deutschen Defizitzahlen für 2005 zeigten, dass Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) wie so oft die Haushaltszahlen schön gerechnet habe, meinte Unions-Fraktionsvize Michael Meister.
Die EU-Kommission nahm zu der neuen Entwicklung im Defizitverfahren offiziell keine Stellung. Es sei verfrüht, über das Vorgehen der Kommission zu sprechen, sagte die Sprecherin von EU-Währungskommissar Joaquín Almunia. Der Kommissar habe stets gesagt, dass die aktuellen Haushaltszahlen von der EU-Behörde rasch überprüft werden. Almunia hatte bereits im Juli gesagt, eine Wiederaufnahme des deutschen Verfahrens sei möglich.
Die europäische Statistikbehörde Eurostat werde Einmalmaßnahmen zur deutschen Haushaltssanierung wie den Verkauf von Telekom- und Postforderungen nicht als defizitmindernd anerkennen, hieß es am Rande der Konferenz. Deshalb werde das Defizit 2005 höher ausfallen als angenommen.
Deutschland verstößt 2005 im vierten Jahr in Folge gegen die Regeln das Euro-Stabilitätspakts, der eine Höchstgrenze beim Defizit vom drei Prozent vorschreibt. Das deutsche Verfahren liegt seit November 2003 auf Eis.
Der nun von der Kommission anvisierte Schritt im Verfahren ist die letzte Stufe vor der Verhängung von Sanktionen. In letzter Konsequenz drohen Geldbußen von bis zu zehn Milliarden Euro. Berlin hatte in den vergangenen Jahren stets die Verschärfung der Strafprozedur im EU-Finanzministerrat abgeblockt.
Trotz des Höhenflugs der Ölpreise wollen die Länder des Euro-Gebiets darauf verzichten, Energieprodukte über Steuererleichterungen zu verbilligen. Dieses schließe jedoch gezielte Hilfen für materiell benachteiligte Bevölkerungsschichten in den Mitgliedsstaaten nicht aus, sagte der Vorsitzende der Finanzminister des Euro-Gebiets, der luxemburgische Premier und Ressortchef Jean-Claude Juncker, am Freitag in Manchester. Er rechne in der Euro-Zone 2005 mit einem Wachstum von nur noch 1,2 bis 1,3 Prozent. Die EU-Kommission hatte bisher 1,6 Prozent angenommen.
Die Minister forderten die Öl-Industrie auf, ihre Raffineriekapazitäten zu erhöhen. Auch müsse der Ölmarkt transparenter werden. Der österreichische Ressortchef Karl-Heinz Grasser sagte: »Wir müssen penibel darauf achten, dass die Ölfirmen nicht Gewinne auf dem Rücken der Konsumenten machen.« Notfalls müssten die Finanzminister »ihre Kreativität spielen lassen«, drohte er. Frankreichs Ressortchef Thierry Breton prüft für sein Land bereits eine Sondersteuer auf die Extraprofite der Ölkonzerne.

Artikel vom 10.09.2005