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Der gewissenhafte Umgang
mit den Toten ist Verpflichtung

Erwin Kowalke sucht und bestattet gefallene Soldaten

Erwin Kowalke schüttet eine Tüte auf seinem Schreibtisch aus. Militärische Rangabzeichen, Koppelschlösser und Erkennungsmarken aus dem Zweiten Weltkrieg kommen zum Vorschein. Er greift einen Orden heraus. Der ist mit einer unscheinbaren Eins versehen. »Wer den bekommen hat, hat zehn Panzerschlachten mitgemacht.«In Deutschland ist der 1919 in Berlin gegründete Volksbund deutscher Kriegsgräbervorsorge für die Erfassung, Erhaltung und Pflege der Gräber von deutschen Soldaten im In- und Ausland zuständig.
Seit gut vier Jahrzehnten kümmert sich der gelernte Tischler aus dem märkischen Buckow, östlich von Berlin, um die Schicksale von Kriegstoten. Erwin Kowalke ist Umbetter, sucht gefallene deutsche Soldaten, identifiziert sie und bestattet sie an einem würdigen Ort. Zu der eher ungewöhnlichen Berufung kam er als junger Mann durch seinen Schwiegervater, der die auf Feldern oder bei Bauarbeiten gefundenen Toten nach dem Krieg umgebettet hat. »Das ging bis zum Mauerbau 1961 gut, danach gab es Schwierigkeiten wegen der Genehmigungen«, erinnert Kowalke sich.
Beide Männer machten klammheimlich weiter, legten deutsche Soldatenfriedhöfe im Oderbruch an und pflegten bestehende Anlagen. »Mancherorts wurden wir hinausgeworfen, anderenorts mit offenen Armen empfangen«, sinniert der 64-Jährige über die unterschiedlichen Gefühlslagen. Die DDR tat sich teilweise schwer im Umgang mit deutschen Kriegstoten.
Seit der politischen Wende vor 15 Jahren ist der engagierte Mann im Auftrag des Deutschen Volksbundes für Kriegsgräberfürsorge (VDK) unterwegs. Auch jetzt noch, obwohl er schon in Rente ist. »Ich arbeite weiter, ehrenamtlich«, sagt er bestimmt. Der drahtige Mann ist einer von drei Umbettern in Deutschland. Auch seine Frau Gisela arbeitet bei dem vor mehr als 80 Jahren gegründeten Volksbund. Der Verein pflegt etwa zwei Millionen Kriegsgräber auf 850 Friedhöfen. Deutsche Kriegsgräber gibt es in 100 Ländern der Erde. Der gewissenhafte Umgang mit den Toten ist für Kowalke Verpflichtung.
Wie bisher in Westeuropa betten die Mitarbeiter des Volksbundes und ehrenamtliche Helfer nun auch in Osteuropa Kriegstote von einzelnen Grabstätten auf große zentrale Friedhöfe um. »Versöhnung über den Gräbern - Arbeit für den Frieden« lautet das Motto des gemeinnützigen Vereins, der sich vorrangig aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden finanziert. Jährlich gehen etwa 38 Millionen Euro an Spenden ein. Davon stammen sieben Millionen aus den traditionellen Haus- und Straßensammlungen. Der Verein hilft Angehörigen bei der Suche nach den Gräbern und der Klärung von Kriegsschicksalen. Tausende Jugendliche pflegen Gräber in Deutschland und im Ausland. Die Grabstätten stehen als Mahnung für Frieden.
Mit Krieg hat Erwin Kowalke absolut nichts im Sinn. Doch das Thema holt den Pazifisten natürlich bei seiner ungewöhnlichen Arbeit ein; auf Soldatenfriedhöfen, einstigen Schlachtfeldern, im Gespräch mit Kriegswitwen oder jungen Menschen. Auch Kowalkes Vater blieb im Krieg und die Mutter mit drei kleinen Kindern zurück. »Vater wollte nicht Soldat werden, er musste gehen.« Im kleinen Büro hängt das Bild vom Vater in Uniform. Daneben ist eine Fotografie von dem Soldatenfriedhof in Frankreich zu sehen, wo der Vater seine letzte Ruhestätte fand. »Krieg ist das Sinnloseste, was es auf der Welt gibt«, sagt der Sohn. Ein Foto erinnert an Kowalkes Schwiegervater, von dem er die schwierige Aufgabe übernahm. Auch der Schwiegervater war Soldat, auf dem Bild trägt er eine Uniform.
Erwin Kowalke kennt die Regionen, in denen der Krieg tobte, wie wenige. Der Kampf um die Seelower Höhen, bevor die Rote Armee nach Berlin zog, die Kesselschlacht in Halbe südlich der Hauptstadt. Häufig wird der 64-Jährige vom Munitionsbergungsdienst gerufen. Wo Blindgänger liegen, werden auch die sterblichen Überreste toter Soldaten vermutet. Stundenlang gräbt Kowalke dann im Erdreich, mit Technik, aber auch mit den bloßen Händen. Meist wird er fündig: Gebeine, Stahlhelme, Koppelschlösser, Abzeichen, Erkennungsmarken.
Die sterblichen Überreste legt er in kleine Sarkophage und bestattet sie auf Friedhöfen oder in Grabanlagen. Über alles führt er genau Protokoll. Protokolle sowie Erkennungsmarken und andere Details, die der Identifizierung der Toten dienen, schickt er an die Deutsche Dienststelle (WAST) nach Berlin, die sich um die Schicksale von Kriegstoten kümmert. Kann der Tote identifiziert werden, beginnt die Suche nach dessen Angehörigen. Zwischen 1991 und 2004 hat die Dienststelle 100 700 Schicksale aufgeklärt. In etwa 6000 bis 8000 Fällen trug Erwin Kowalke durch seine Arbeit dazu bei. Nicht zu unterschätzen sei sie, lobt der stellvertretende Leiter der Deutschen Dienststelle, Peter Gerhardt, die Unterstützung des rührigen Helfers.
Das Amt erhält monatlich um die 5000 Anfragen jeglicher Art. Da geht es nicht nur um vermisste Kriegstote, sondern auch um Angaben über Kriegs- und Kriegsgefangenenzeiten, wenn sie für die Rentenberechnung nötig sind. Oder wenn einstige Kriegsteilnehmer Kameraden suchen. Täglich erhalten die Rechercheure, die inzwischen auch Zugang zu den Archiven in Russland haben, Dankschreiben. »Es sind schon die Kinder und Enkel, die uns schreiben«, sagt Gerhardt. Sie seien dankbar, dass es so viele Jahre nach Kriegsende eine Dienststelle gibt, die sich dieses Themas annimmt. Für Erwin Kowalke macht es keinen Unterschied, ob er einen Russen oder Deutschen, einen Rotarmisten oder Wehrmachtsangehörigen entdeckt hat. »Der Tod macht sie alle gleich.«
Krieg, Tod und Trauer sind es, die schwierigen, ernsten Themen, die Kowalke und seine Frau täglich beschäftigen. Dennoch gibt es Momente, bei denen sich ein gutes Gefühl in den täglichen Umgang mit dem Tod mischt. Das passiert immer dann, wenn ein Schicksal aufgeklärt werden kann. Nicht selten muss der Umbetter eine Kriegswitwe zu dem Ort führen, wo ihr Mann gefallen ist. Nicht selten zeigt er Hinterbliebenen, wo ihre seit Jahrzehnten vermissten Familienmitglieder nun begraben sind. »Trauer braucht einen Ort.«
Deshalb war es für ihn selbstverständlich, die Bitte einer älteren Dame aus Niedersachsen zu erfüllen. Sie wollte auf einem Soldatenfriedhof im Oderbruch einen Gedenkstein für ihren in Montenegro vermissten Mann setzen. Kowalke half bei den Formalitäten. Jetzt zu einem Grabstein, einem konkreten Ort gehen zu können, bedeute für diese Frau Trauer und Glück zugleich, sagt er. Zwei Mal im Jahr fährt Kowalke auf den Balkan, um dort nach vermissten Deutschen zu suchen. »Der Volksbund ist beispielsweise in Russland, Weißrussland, Polen, Ungarn und Rumänien aktiv.« Gern erzählt er aus der Arbeit der Organisation, denn diese baut Friedhöfe, bettet die Toten um, stellt Namenstafeln auf. Kowalke steht auf und nimmt eine gerahmte Urkunde von der Wand. »Die Zusammenarbeit mit Russland läuft hervorragend.« Mit dieser Urkunde habe der russische Präsident Wladimir Putin ihm vor vier Jahren für seine Arbeit persönlich gedankt, für die Erhaltung und Pflege russischer Kriegsgräberstätten in Deutschland. Aus einem Hefter zieht Kowalke das Blatt mit der Übersetzung des Textes in deutscher Sprache.
Kowalke sucht nicht nur nach Soldaten, Kriegsgefangenen, Zwangsarbeitern und Zivilisten. Er hat auch Insassen aus Lagern des früheren sowjetischen Geheimdienstes NKWD umgebettet, die nach 1945 ums Leben kamen. 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg werden immer noch eine Million Kriegstote vermisst. »Jeden, den wir finden können, bergen wir und beerdigen ihn.«

Artikel vom 29.10.2005