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Überall Baumheide: Wir
sind alle Ghettokinder

Uraufführung von »Dogland« des scheuen Nuran Calis

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Nuran Calis ist scheu. Das ist jedenfalls die offizielle Begründung, die er verbreiten lässt, um zu erklären, warum er sich weigert, im Vorfeld der Uraufführung seines Theaterstücks »Dogland« öffentlich aufzutreten.

Bislang war Nuran Calis nicht unbedingt als Sensibelchen aufgefallen: Der 29-jährige Autor und Regisseur aus Baumheide wirkte als Türsteher vor Discotheken und als Boxtrainer. Und »Dogland«, das der Österreicher Philip Preuss an diesem Freitag, 19.30 Uhr, im Theaterlabor »Tor 6« erstmals inszeniert, wird gerühmt wegen seiner starken Sprache, die den Kraftausdruck nicht scheut.
Weltflucht aus schlechtem Gewissen, weil in Bielefeld ein heimischer Stadtteil als Ort der Hoffnungslosigkeit vorgeführt wird? Chefdramaturg Uwe Bautz weist diese Vermutung energisch zurück: »Die Lebensverhältnisse in Baumheide waren lediglich der Ideengeber für Calis' Darstellung einer desillusionierten Clique.« Tatsächlich gehe es um allgemeine Probleme der A-Gesellschaft (Asylanten, Ausländer, Arbeitslose), ergänzt Preuss: »Ob in Wien, Frankfurt oder Bielefeld: Der Kapitalismus, der das Individuum nur als Ware, als Produkt wahrnimmt, lässt weltweit Ghettos entstehen.«
Botschaft: Baumheide is always and ev'rywhere. Ey, Alter, voll krass, Alter, lass uns aneinander vorbeireden, Alter. Bezüge zur Hip-Hop-Szene, zur diffusen Welt, in der Virtuelles und Reales verschmelzen, sollen in der Bielefelder Inszenierung sichtbar werden; Ramallah Aubrecht gestaltet die Bühne als Billigbaracke mit Holzlatte und Plastikplane im Dialog.
Die Story: Nach zehnjähriger Abwesenheit kehrt Memo (Andreas Hilscher) ins enge Baumheide zurück, in dem die Mitglieder der ehemaligen Jugendclique alle Hoffnungen begraben und sich Nischen zum Überleben gesucht haben. Frank (Wiedersehen mit Nico Nothnagel, der von 2002 bis 2004 fest zum Ensemble gehörte) hat aus der Disco einen Korkladen gemacht (realiter führt Calis' Onkel einen Korkladen an der August-Bebel-Straße). Christin (neu in Bielefeld: Claudia Mau), Memos Exfreundin, hat sich einem anderen zugewandt und schafft heimlich als Prostituierte an. Alex (Oliver Baierl) ist nicht der einzige, der glaubt, mit Memos Rückkehr könne man wieder zurück in die Jugend reisen und die alten Ideale reanimieren. Diese Illusion müssen drei Menschen mit dem Leben bezahlen.
Bautz und Preuss verstehen »Dogland«, Teil II einer Heimattrilogie, als geschicktes, oft humorvolles Spiel mit Zitaten. Vom Motiv der Rückkehr lebten unzählige Heimatfilme, auch die »Belle de jour«, einst von der Deneuve janusgesichtig interpretiert, ist wiederzuerkennen. In weiteren Rollen: Carmen Priego als Memos Mutter Lale, Nicole als kesse Pepsi und Stefan Gohlke als Mike.
Die nächsten Vorstellungen: 11. bis 15., 17., 20. bis 24. und 27. bis 30. September.

Artikel vom 06.09.2005