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»Wir haben keinen Helfer gesehen«

Anarchie in New Orleans - Zurückgebliebene sprechen von Mord und Vergewaltigung

Von Klaus Marre
und Peter Cooney
New Orleans (dpa/Reuters). Die Menschen in der einst so prächtigen Hafenstadt New Orleans sind nach der Flut nicht mehr sie selbst. Die eigentlich so entspannte, lebensbejahende Art der Einwohner hat sich ins krasse Gegenteil verändert.

Um in dem Chaos zu überleben oder die Stadt verlassen zu können, vergessen sie Gesetz und Gewissen. Vom berühmten »Big easy«, der »großen Leichtigkeit«, ist nichts mehr zu spüren. New Orleans versinkt nach dem Hurrikan »Katrina« nicht nur im Wasser, sondern auch in der Anarchie.
»Die Menschen sind nicht mehr sie selbst«, sagt Michael Bevis. Wie die meisten der in New Orleans Zurückgebliebenen kann er beängstigende Geschichten über Morde, Vergewaltigungen und Plünderungen in den Straßen erzählen. Die Menschen würden immer rücksichtsloser - sei es aus Hunger, mangelndem Schuldbewusstsein oder purer Gier.
Plünderungen von Supermärkten sind an der Tagesordnung, mittlerweile toleriert die Polizei Beobachtern zufolge sogar den Diebstahl von Lebensmitteln oder anderen lebenswichtigen Waren. Aber die Räuber wollen mehr, verlassen die Geschäfte zum Beispiel mit Einkaufswagen voller Kleidung. Immer wieder eskaliert die Gewalt in Schießereien zwischen Gesetzesbrechern und Polizisten sowie Nationalgardisten.
Erschüttert sind die Menschen auch von Berichten über die Vergewaltigung eines 13 Jahre alten Mädchens im Notlager »Superdome«. Eine Frau erzählte dem Nachrichtensender CNN, dem Mädchen seien beide Fußgelenke gebrochen worden. »Wir gingen zur Polizei und dort wurde uns gesagt, wir hätten die Stadt nun einmal vor dem Sturm verlassen sollen - jetzt müssten wir damit leben«.
Selbst aus dem »Ritz Carlton« dringen verzweifelte Hilferufe nach draußen. Dort sitzen noch immer 300 Gäste fest. Von Luxushotel keine Spur mehr: »Die Toiletten sind voll, das Wasser wird knapp, wir sind auf Essensrationen gesetzt und haben bislang keinen einzigen Helfer gesehen«, sagte Phyllis Petrich, die mit einem Anruf bei CNN um Hilfe fleht: »Wir wissen nicht, ob überhaupt irgendjemand weiß, dass wir hier sind.«
Petrich wollte mit ihrem Mann ihren Hochzeitstag in New Orleans feiern und hatte am Sonntag noch vergeblich versucht, aus der Stadt zu flüchten. Ärzte, die sich zu einem Kongress im Hotel aufhielten, hätten eine kleine Krankenstation eingerichtet. Die ersten Patienten mit Durchfall und Übelkeit würden dort notdürftig versorgt. Angesichts marodierender Banden draußen wage sich keiner auf die Straße. Hotelangestellte mit Pistolen bewachten die Anlage. »Wir können nicht glauben, wie schlecht das alles organisiert ist.«
Doch es gibt auch einige wenige ermutigende Zeichen von Menschlichkeit unter der Bevölkerung. Um sich vor Verbrechern zu schützen, schließen sich Wildfremde zu Gruppen zusammen und teilen spärliche Essens- und Wasservorräte. »Es gibt ja nirgendwo sonst Hilfe«, sagt John Fulton, der als Tourist in New Orleans gestrandet ist. Auf seiner Suche nach einem Weg aus der Stadt hat er neue Freunde gefunden. Gemeinsam sind sie stärker, hoffen sie.
Auch die Wut gegen die Verantwortlichen trägt ein wenig zur Verbundenheit bei. Der Staat habe zu langsam reagiert und es seien zu wenig Polizisten dort, um die obdachlosen Menschenmassen in der Stadt zu kontrollieren, lautet die überwiegende Meinung.
New Orleans ist derzeit kein Ort zum Leben. Wann es wieder einer sein wird? Ob es wieder einer sein wird? Die Zurückgebliebenen, von denen es viel mehr gibt, als die Behörden nach der Zwangsevakuierung am vergangenen Sonntag dachten, berichten von apokalyptischen Szenen. »Leichen trieben an meiner Tür vorbei«, sagt Robert Lewis, nachdem er es drei Tage nach dem Sturm, am Donnerstagabend, endlich geschafft hatte, mit seinen Kindern in einem der Flüchtlingsbusse aus der Katastrophenregion ins texanische Houston zu entkommen.
Keith Brooks, der mit 23 000 anderen Menschen im Footballstadion Superdome gefangen saß: »Es ist alles zusammengebrochen. Im Grunde gab es dort nichts. In dem Gebäude hätte überhaupt niemand untergebracht werden dürfen.« Er selbst wolle nie wieder nach New Orleans zurück: »Sie haben sich um niemanden gekümmert.«
Auch aus umliegenden Orten gibt es solche Berichte und Vorwürfe. Henry Mackels aus Chalmette etwa: Gemeinsam mit seiner Frau, seinem Sohn und mehreren 100 anderen Menschen suchte er in einer örtlichen Schule Schutz, als »Katrina« am Montag über die Region hinweg peitschte. Es habe seitdem nichts zu essen, nichts zu trinken gegeben. Gemeinsam mit anderen plünderte Mackels Lebensmittelgeschäfte: »Wir hatten keine Wahl«, sagte er. Auch diese Stadt sei vollkommen zerstört. Mackels: »Es gibt kein zurück.«

Artikel vom 03.09.2005