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»Ich heiße
Loretta - wo ist
mein Sohn?«

Verzweifelte Suche nach Angehörigen

Von Christiane Oelrich
und Klaus Marre
Baton Rouge (dpa). Mit knapper Not dem Tod entronnen hat für Tausende Hurrikan-Opfer das nächste Horrorkapitel in dem nicht enden wollenden Albtraum begonnen: Wo sind die Angehörigen?

In dem hunderte Quadratkilometer großen Katastrophengebiet funktioniert kein Telefon, kein Computer, und kaum einer hat Strom, um Radio zu hören. Dennoch versuchen tausende Verzweifelte, die sich retten konnten, über Internet und Lokalradio Lebenszeichen ihrer Lieben zu finden.
Die Situation ähnelt dem, was sich nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 abspielte. Damals hielten verzweifelte New Yorker Fotos von ihren Lieben in die Kameras, in der Hoffnung, das irgendjemand irgendetwas weiß.
In Louisiana ist den Stimmen der Anrufer beim Lokalrundfunk die Verzweiflung anzuhören. Eine junge Frau fleht um Hilfe für eine Verwandte, die dringend ein Atem-Gerät braucht. Der nächste Anrufer bietet Cousins und Tanten an, zu ihm nach Baton Rouge zu kommen. Seine Leute seien in den Superdome, der Footballarena von New Orleans, geflüchtet. Doch wie soll er sie erreichen? »Bitte ruft an«, beschwört er die Verwandten in der Hoffnung, dass sie doch irgendwie Radio hören können, und gibt seine Nummer durch.
Ein anderer Anrufer will wissen, wie es im Nachbarstaat Mississippi aussieht. Fünf Minuten später ruft einer an und sagt, die ganze Küste dort sei verwüstet. Er wisse nicht, ob man dort überhaupt noch leben könne. Die Anrufe zeigen, dass alle händeringend nach Informationen suchen. In einer Zeit, in der sich Amerikaner sonst in sekundenschnelle per Computer oder Mobiltelefon informieren, ist es für viele unerträglich, so im Dunkeln zu tappen.
Wieder andere Angehörige kleben am Fernsehschirm und hoffen, dass irgendeine Kamera ihre Lieben vielleicht gefilmt hat. Frances Alexander und Nina Hicks aus Baton Rouge suchen nach einer Tante. Ein paar Leute wollen die alte Dame im Fernsehen auf einem Dach gesehen haben, mit Sanitätern an ihrer Seite. Aber war sie es wirklich? Und wo ist sie nun?
Radiosender und Zeitungen in den betroffenen Gebieten haben Webseiten für die Suche eingerichtet. »Hat jemand meine Mutter Carol Stakes gesehen?«, schreibt eine Frau auf der Seite des Senders 4wwl. Auch im Internetportal »Craigslist«, das sonst Kleinanzeigen veröffentlicht, melden sich Verzweifelte: »Ich heiße Loretta und suche meinen Sohn.« Es ist zwar allen klar, dass die Opfer nicht in der Lage sind, die Suchmeldungen zu sehen, geschweige denn, sich zu melden. Es ist aber ein Hoffnungsschimmer, an den sich viele klammern.
Beim Roten Kreuz stehen die Telefone nicht still. Die Mitarbeiter nehmen die Suchanfragen auf, doch sind auch sie Opfer des kollabierten Kommunikationsnetzes. Helfer Don Scheer sagt dem Sender WHAS in Gulfport: »Wir reden den Leuten vor allem gut zu und beruhigen sie.«

Artikel vom 02.09.2005