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Gibt es ein typisches
Verbrechergehirn?

Neues Forschungsprojekt an der Universität Bielefeld

Von Sabine Schulze
Bielefeld (WB). Jahrzehntelang hat der Familienvater gut funktioniert, plötzlich vergreift er sich an Kindern. Eine Untersuchung seines Gehirns ergibt, dass er einen Tumor im Stirnhirn hat - für Prof. Dr. Hans-Joachim Markowitsch die Erklärung für sein verändertes Verhalten.
Prof. Markowitsch: Das Gehirn verändert sich.
»Man weiß, dass im Stirnhirn Mitleid, Altruismus, Moral, das soziale und emotionale Verhalten verankert sind«, erklärt der Wissenschaftler, der an der Universität Bielefeld Psychologie lehrt und weltweit einen Ruf als Gedächtnis- und Hirnforscher hat. Er befasst sich mit der Frage, ob es ein »kriminelles Gehirn« gibt, ob man am Gehirn ablesen kann, dass ein Mensch gut oder böse ist.
»Schon 1888 hat eine Ärztin in Zürich beschrieben, dass es Charakterveränderungen als Folge von Verletzungen des Stirnhirns gibt«, sagt Markowitsch. Seitdem hat es zahlreiche Studien dazu gegeben, und in den vergangenen zehn Jahren sind vor allem in den USA immer wieder die Gehirne von Gewaltverbrechern untersucht worden. Das Ergebnis: »Man hat nachgewiesen, dass ihr Stirnhirn verändert ist.« Es hat ein geringeres Volumen und einen verminderten Glukosestoffwechsel. »Das bedeutet weniger 'Nahrung' und damit weniger Aktivität der Nervenzellen.«
Die These von Markowitsch: Gehirne sind analog zum Sozialverhalten eines Menschen verändert. Die Ursachen dafür sieht der Hirnforscher in der Umwelt, die auf ein (kindliches) Gehirn einwirkt. Er geht davon aus, dass kein Mensch »von Natur aus« schlecht ist, eine erbärmliche Kindheit das Gehirn aber so verändern kann, dass ein Mensch kriminell wird. »In den Gefängnissen überwiegen die Täter aus sozial schwachen Verhältnissen deutlich.« Allerdings: Längst nicht jeder, der in zerrütteten, armseligen Verhältnissen oder einem gewalttätigen Milieu aufwächst, gerät auf die schiefe Bahn: »Es gibt eine genetische Grundausstattung, die unser Ausformungspotential bestimmt.« Das Erbgut liefert quasi die Vorgabe, die Umwelt prägt dann aus.
Für Markowitsch stellt sich die Frage, wie die Gesellschaft mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen umgehen soll. Im November will er ihr mit Kollegen im Rahmen einer Tagung nachgehen. Diskutiert wird dann sicher auch die Schuldfähigkeit von Menschen, deren Gehirn durch körperliche oder seelische Verletzungen geprägt wurde, die Frage nach dem sogenannten freien Willen. Ebenso fragt sich, ob bei ausgeprägten Soziopathen überhaupt Wiedereingliederungsmaßnahmen greifen? Wie könnte ein Präventivprogramm aussehen? Ist das Gefängnis für junge Täter eine geeignete Maßnahme? Macht Abenteuer-Urlaub Sinn, wenn die Lehre daraus sein kann, dass abweichendes Verhalten belohnt wird?
Alle jungen Gewalttäter mit einer Kernspintomographie zu untersuchen, um die herauszufiltern, die schon aufgrund ihrer Gehirnstuktur Böses ahnen lassen, hält Markowitsch für wenig praktikabel. »Die Frage ist zudem, ob wir das wirklich wollen: Wollen wir in die Gehirne schauen?« Ein altes Lied sagt, die Gedanken seien frei - dann nicht mehr?
Für den Psychologen steht fest, dass es Extremfälle gibt, in denen keine Resozialisierung greift - und der Opferschutz vorrangig wird. Aus der Erkenntnis, dass die Umwelt großes Gewicht hat für die spätere (kriminelle) Laufbahn, leitet er die Forderung ab, dass die Gesellschaft die Startbedingungen aller verbessern muss.

Artikel vom 01.09.2005