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Kein Entrinnen aus
dem Plattenbau -
Baumheide irritiert

Diskussionen um das Theaterstück »Dogland«

Von Matthias
Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Als der Theaterdramaturg Uwe Bautz das Internet nach Infos über Baumheide durchsurfte, wurde ihm schwarz vor Augen. Die dortige Bürgerinitiative hingegen tritt unter dem Namen »Besser leben und wohnen in Baumheide« an. Jetzt führt ein Schriftsteller Baumheide als ersten Kreis der Hölle vor. Selbst kunstsinnige Bürger sind entsetzt . . .

Hier Multikulti à la Jugendgang, dort die freie Kunst, dazwischen der besorgte Bürger. Erste Verwerfungen wurden am Dienstagabend sichtbar, als die Schauspieler im Theaterlabor »Tor 6« eine harsche Szene aus »Dogland« probten. Auf den Rängen: die Theater- und Konzertfreunde (Thekos), aber auch Mitglieder der Bürgerinitiative.
»Die Gesellschaft höhlt die Menschen aus - der Wert des Individuums entspricht nur noch seinem Brennwert«, meinte Regisseur Philipp Preuss, Österreicher und vermutlich durch das Stahlbad der Sottisen Thomas Bernhards gegangen. Aushöhlen und verbrennen - muss das denn ausgerechnet in Baumheide sein? Muss Christine (neu im Ensemble: Claudia Mau) tagsüber in der Müllverbrennungsanlage schaffen und abends anschaffen gehen?
»Dogland«, das am Freitag, 9. September, 19.30 Uhr, im »Tor 6« uraufgeführt wird, stammt aus der Feder eines Baumheiders: Nuran Calis (29), Autor und Regisseur mit armenisch-jüdischen Wurzeln, hiphoppte in Bielefelds Nordosten durch seine Jugend. »Dogland«? Das hört sich an wie »Hunde, wollt ihr ewig hier leben?« - Calis hat Baumheide längst gegen München getauscht.
Nach »Dog Eat Dog« bildet »Dogland« den zweiten Teil einer Heimattrilogie: Nach zehn Jahren bei der Fremdenlegion kehrt Memo, die Zentralfigur aus Teil I, nach Baumheide zurück. Dadurch verstört er die daheimgebliebenen, desillusionierten Weggefährten seiner Jugend und ermordet seine Mutter und deren Freund.
»Harte Kost«, sagte die Thekos-Vorsitzende Christiane Pfitzner nach der besagten Probenszene. In der wird zwar kein Mord verübt, dafür erzählt einer von seiner extrem ergiebigen Sitzung auf der Kloschüssel. Drei diskutieren die Schmerzen bei Mann plus Mann im Bett. Und wenn Sie die Zeilen »though she never lost her head, even when she was giving head« (aus Lou Reeds »Walk on the wild Side«) korrekt übersetzen können, ahnen Sie schon, was zwei andere da so treiben.
Gerade erst hat die Bürgerinitiative einen Pavillon errichtet, eine Sitzgruppe installiert und Gehwege mit Mosaiken gepflastert. Für 120 000 Euro Baumheide schöner gemacht: »Culture & Nature«. Und dann hebt das Theater ein Stück auf die Bühne, in dem Hoffnungslosigkeit über den Kulissen hängt und das Elend aus den Mündern der Schauspieler tropft.
Es ist zum Aus-der-Haut-fahren. Sitzgruppe und Mosaiken: Alles für die Katz.
Wie schön wäre die Welt, hätte sich nicht das Happy-end aus der Kunst verabschiedet wie einst Nuran Calis aus Baumheide. Hans-Georg Fischer von der Bürgerinitiative fragte am Dienstag hoffnungsvoll an, ob sich da nicht vielleicht ein Lichtstrahl . . . eine klitzekleine positive Perspektive . . .
Niemals! »Nuran Calis fixiert Sehnsüchte, aber Visionen, einen Ausweg gar, hat ÝDoglandÜ nicht zu bieten«, erklärt Preuss.
Aber Baumheide habe doch auch seine schönen Seiten, fleht das um die Früchte seiner Arbeit sich betrogen fühlende Bürgertum. Liebe Leute! Baumheide ist doch nur eine Chiffre, eine Metapher - auch Wien hat sein Baumheide, antwortet mitleidlos die Kunst.
Mag ja sein, aber Baumheide hat kein Schönbrunn. Es hat ein Freizeitzentrum, 1300 Quadratmeter Abenteuerspielplatz für Kinder von 6 bis 12 mit Kreativ- und Bauaktionen (leider finden hier, wie der Jugendring wörtlich erklärt, an manchen Tagen nicht mal Öffnungszeiten statt), einen Gemeindedienst und den Jugendtreff »Mobile Arbeit Ost«.
Aus dem weltweiten Netz aber höhnt es rüde: »Baumheide ist eine Plattenbausiedlung.«
Dramaturg Bautz schwenkt die Fahne der Versöhnung: »ÝDoglandÜ hat Liebesszenen, ist wirklich humorvoll und vermittelt Heimatgefühle.« Ach, die Mühe war vergebens. »Sicherlich soll die Kunst alles dürfen, aber sie zeigt uns leider nur: Es gibt kein Entrinnen aus dem Elend von Baumheide«, insistiert Bürger Fischer.
»Ich wünsche ÝDoglandÜ viele Zuschauer - und möge es Diskussionen auslösen«, sagt Thekos-Chefin Christiane Pfitzner. »Das haben Sie wunderbar ausgedrückt«, findet Bautz. Ob »Schöner leben und wohnen in Baumheide« nicht bei der Matinee am Sonntag (11.15 Uhr, »Tor 6«) auf dem Podest mitdiskutieren wolle? »Nein, wir halten das nicht für richtig.«
Mit »Café Europa« wird Nuran Calis seine Heimattrilogie abschließen; dort rückt er fort von der Peripherie und mitten hinein in die Wonnen der Innenstadt. Auf das Echo der Big City darf man gespannt sein . . .

Artikel vom 01.09.2005