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Stolzgeschwellte Objektive

Avantgarde und Propaganda - Sowjetische Fotokunst

Von Manfred Stienecke
Paderborn (WB). Die Fotografie als Kunstform: Vor allem russische Fotopioniere bewiesen in der Zeit zwischen den Weltkriegen ihr experimentierfreudiges Kamera-Auge. In Paderborn sind jetzt hochkarätige Beispiel der sowjetischen Fotokunst jener Jahre zu bewundern.
Experimenten gegenüber immer aufgeschlossen: der Fotokünstler El Lissitzky. Foto: Katalog
Ein flanierendes Pärchen blickt zu einem Hochhaus mit glitzenerder Glasfassade empor. Das Auge des Fotografen erfasst die Beiden nur von hinten - und doch glaubt der Betrachter den Stolz und die Bewunderung für dieses architektonische Ausrufezeichen der neuen Zeit in ihrer selbstbewussten Kopfhaltung erkennen zu können.
Viele der Originalabzüge aus der Sammlung des Kölner Galeristen Alex Lachmann, die in Paderborn erstmals in einer Einzelausstellung präsentiert werden, spiegeln den Enthusiasmus, mit dem Kamerakünstler wie El Lissitzky, Boris Ignanowitsch und Alexander Rodtschenko den Aufbruch aus dem rückständigen feudalistischen Zarenreich in das vermeintlich freiheitliche moderne Sowjet-Zeitalter zu unterstützen suchten. Mit spürbarem Engagement konturieren die Fotografen die Ausprägungen des neuen Russland in den zwanziger und dreißiger Jahren: die forcierte Industrieproduktion kulminiert in den Bildern einer voll unter Dampf stehenden futuristischen Schnellzuglok, eines aus Schrägperspektive aufragenden Strommasten einer Überlandleitung oder eines mächtigen Staudamms. »Es sieht so aus, als könne nur der Photoapparat das moderne Leben abbilden«, doziert Rodtschenko 1928.
Das fotografische Selbstbewusstsein freilich gerät mit dem Machtantritt Stalins zunehmend unter den Druck staatstragender Propaganda. Das Russland-Bild, das die einstigen Avantgarde-Künstler nun zeichnen müssen, erhält eine deutliche militärische Ausrichtung. Georgi Petrussow weidet sein konstruktivistisches Künstlerauge an den aufgerichteten Kanonen eines Kriegsschiffes und korrumpiert die bildliche Ästhetik durch eine Formation von Jagdfliegern, die er aus spektakulärer Perspektive über den Riesenpropeller einer am Boden stehenden Maschine ziehen lässt.
Auch vor der ostentativen Glorifizierung des Sowjetkultes schrecken die systemtreuen Bildfinder nicht zurück. Der ausgestreckte Arm einer monumentalen Denkmalstatue erweist in der Nachtaufnahme von Arkadi Schaichet dem angestrahlten Kreml-Turm seine Reverenz - oder greift er doch anarchisich nach dem Symbol der sowjetischen Macht? Kritische Distanz zum Motiv jedenfalls mag man kaum einer der 63 versammelten Schwarz-Weiß-Abzüge zubilligen.
So zeichnen Szenen aus der properen Arbeitswelt und von geordneten Armee- und Sportaufmärschen das Bild einer disziplinierten Gemeinschaft, die bis in den Privatbereich hinein die Mär vom glücklichen Menschen in einem athletischen Körper kolportieren.
Die aufschlussreiche und nicht nur aufgrund der hervorragenden künstlerischen Qualität der Fotografien sehenswerte Werkschau wird an diesem Sonntag um 11.15 Uhr in der Städtischen Galerie in Paderborn eröffnet. Sie ist bis zum 27. November täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Außerdem ist ein 78-seitiger Katalogband (14 Euro) erhältlich.

Artikel vom 03.09.2005