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Schröder erlebt in Berlin
Passauer Verhältnisse

Bundeskanzler glaubt noch immer an den Wahlsieg

Von Reinhard Brockmann
Berlin (WB). Der Beifall nahm kein Ende, Passauer Aschermittwochs-Verhältnisse in Berlin, das Jungvolk skandiert »Jetzt geht's los« - und alle wissen, dass am 18. September alles vorbei sein könnte.

Noch nie hat Gerhard Schröder für eine Parteitagsrede 12 Minuten und 10 Sekunden Applaus bekommen. Beim Sonderparteitag beschwor der Kanzler gestern in einer kämpferischen, mitunter sogar aggressiven Rede seine Partei, den Wahlsieg in gut zwei Wochen doch noch möglich zu machen. Wir, wir, wir: Immer wieder unterstrich Schröder in seiner 90-minütigen Rede die Leistungen und die historische Aufgabe der deutschen Sozialdemokratie.
Keine Partei sei besser in der Lage, die Balance aus wirtschaftlich Notwendigem und sozial Gebotenem zu finden. In tosendem Beifall ging sein Satz auf: »Die SPD ist und bleibt die Partei der praktischen Vernunft, der Nachhaltigkeit und der Gerechtigkeit.«
Wichtig sei, dass die Partei dem Kanzler auf seinem Weg der Reformen und Modernisierung folge, sagte SPD-Bezirkschef Axel Horstmann unmittelbar vor dem Beginn des Konvents, an dem auch ein gutes Dutzend Delegierter aus Ostwestfalen teilnahm. Die Sorge war unberechtigt. Wie ein Mann stand die Partei hinter ihrem Kanzler, Zustimmung auf der ganzen Linie. Aber auch Schröder selbst ließ keinen Zweifel aufkommen, sprach nicht über die Beweggründe, vorgezogene Neuwahlen herbeizuführen, umging geschickt die Frage nach seiner persönlichen Perspektive nach dem 18. September. Auch die kleinen Illoyalitäten der eigenen Linken wurde nicht einmal am Rande erwähnt.
Die SPD habe es geschafft, die Agenda 2010 in den Institutionen und nicht auf der Straße umzusetzen, lobte Schröder seinen Kurs. Falls aber »die anderen« ihre Vorstellungen von Reformen durchsetzen wollten, dann drohe Ungemach. Ellenbogen, Neid, Missgunst, kalt, unmenschlich, gar Spaltung, das waren die Stichworte, wenn von »denen« die Rede war. Gesteigert wurde das Despektierliche noch, wenn Schröder »diesen Professor aus Heidelberg« ansprach und Merkels Finanzexperten Paul Kirchhof anhand seiner eigenen Konzepte streng logisch ab absurdum führte.
»Täglich 1000 Arbeitsplätze weniger«: Dieses CDU-Plakat ärgert Schröder offenbar am allermeisten. »Lüge«, schimpfte er und hielt dagegen, dass seit April täglich 1500 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse neu entstünden. Den Saldo aus Zuwachs und Verlust ließ er offen.
»Das war eine großartige Rede«, war die ostwestfälische Europaabgeordnete Mechtild Rothe restlos begeistert. Viele Inhalte seiner Politik seien von Schröder vorgetragen worden. »Was zunächst als Aneinanderreihung rüberkam, wurde im Verlaufe klar erkennbar als ein geschlossenes Konzept!«
Des Kanzlers Kampfeswille sei klar übergesprungen auf die Zuhörer und in der Lage, die Partei noch einmal zusätzlich zu motivieren. Schröders Ziel, die SPD allen Umfragen zum Trotz am 18. September zur stärksten Partei zu machen und auch die CDU zu überholen, müsse jetzt wieder möglich sein, gab sich Rothe überzeugt.
»Keine Operette« hatte Parteichef Müntefering schon vorher versprochen und damit auf den Sonderparteitag der CDU mit Angela Merkel am vergangenen Sonntag in Dortmund angespielt. Tatsächlich trat deshalb im Vorprogramm nicht die Mini-Riege der SPD-Ministerpräsidenten auf, sondern Wählerinitiativen aus der Wirtschaft, von Betriebsräten, Kommunalpolitikern und der Frauenbewegung. Als Porsche-Betriebsrat Uwe Hück dann auch noch als Vater von drei Kindern Schröder wortmächtig dafür dankte, dass er »Deutschland aus dem Krieg gehalten« hatte, bekam Schröder zum ersten Mal an diesem Tag des vorgezogenen Abschieds feuchte Augen.

Artikel vom 01.09.2005