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»Das hier ist unser Tsunami«

80 Prozent von New Orleans unter Wasser - unüberschaubare Schäden

Von Gabriele Chwallek
New Orleans (dpa). Das einzige, was sie noch vorfand, war ein roter Schuh. Als Suzanne Rodgers zu ihrer Wohnung in einem Mietkomplex in Biloxi (Mississippi) zurückkehrte, war da nichts mehr - nur plattgedrückte Trümmer, als wäre eine Dampfwalze über das Haus hinweggerollt.

»Ich kann es nicht fassen, es war so ein Riesengebäude«, sagt die Amerikanerin mit tränenerstickter Stimme. Da weiß sie noch nicht, was wirklich geschah: Mindestens 30 Mitbewohner, so wurde gestern geschätzt, verloren ihr Leben, als »Katrina« das Gebäude von seinem Fundament riss, als wäre es ein Puppenhaus.
Ob es die schlimmste Hurrikankatastrophe der US-Geschichte ist oder nicht - das interessierte am Tag nach »Katrinas« bösartigem Angriff auf den Südosten der Nation nur die Statistiker. Für die Betroffenen war es verheerend, vernichtend, unfassbar - »unser Tsunami«, wie es der Gouverneur von Mississippi, Haley Barbour, formulierte. Hunderte Kilometer von Wasserwüsten, gestrandete Menschen auf Dächern, verzweifelte Hilfeschreie, die aus Dachkammern nach außen dringen, Straßen voller Trümmerteile - »Katrina« gab sich nicht mit halben Sachen zufrieden.
Und mit New Orleans, der Perle von Louisiana, trieb sie ein besonders grausames Spiel. Erst sah es so aus, als habe sich der Hurrikan noch relativ gnädig gezeigt. Die Dämme, die die weitgehend von Wasser umgebene und unterhalb des Meeresspiegels gelegene Stadt schützen, schienen zu halten. Dutzende von Menschen, die in der Stadt ausgeharrt hatten, wagten sich bereits wieder auf die von abgerissenen Fassadenteilen und Glassplittern übersäten Straßen der Altstadt.
Und dann kommt sie, die Alarmmeldung: Auf einer Länge von zwei Straßenzügen bricht ein Damm, Wassermassen vom Pontchartrain-See schießen in die Stadt, steigen und steigen - in manchen Gebieten bis zum Dach. Bürgermeister Ray Nagin sagt mit leiser, fast erloschener Stimme: »80 Prozent sind unter Wasser.« Er weiß, was das bedeutet. Es wird Wochen, vielleicht Monate dauern, bis die meisten der 800 000 geflohenen Menschen zurückkehren können. Ein großer Teil der Pumpen ist ausgefallen, und Nagin sagt schon jetzt voraus, dass es Wochen dauern wird, bis die Elektrizität wieder hergestellt ist.
Und die, die geblieben sind? Aufnahmen von einem Hubschrauber aus zeigen das Elend im Bezirk St. Bernard: Wasser, so weit das Auge reicht. Schätzungsweise 40 000 Häuser sind zum großen Teil bis zum oberen Stockwerk oder bis zum Dach verschwunden - oder ganz. Es ist eine Region, in der viele Arme leben, Menschen, die kein Auto haben, mit dem sie hätten fliehen können. Mit Kindern, manchmal Babys, sind sie auf die Dächer geklettert, flehen um Hilfe. Mit Rettungsleinen werden so viele wie möglich an Bord von Helikoptern geholt oder an Bord von Booten. Aber dann wird es dunkel und zu gefährlich für die Rettungsteams, weil so viele Stromleitungen heruntergerissen wurden und im Wasser zur tödlichen Falle werden können. Die schreienden Menschen in ihren Häusern müssen bis zum Morgen durchhalten. »Es tut uns so leid, es bricht uns das Herz«, sagt eine Nationalgardistin. Auch eine CNN-Reporterin, die die Szene beschreibt, kann ihre Tränen kaum zurückhalten.
In Biloxi scheint am Tag danach die Sonne von einem strahlend blauen Himmel. Es erscheint fast wie Hohn und führt das Ausmaß der Verwüstung nur noch drastischer vor Augen. Wie in Gulfport ist fast die gesamte Innenstadt überflutet. Straßen über Straßen sind unpassierbar, und damit bleiben manche Gebiete für die Retter noch unzugänglich. Und das wiederum könnte heißen, dass die Zahl der Toten noch erheblich steigen wird.

Artikel vom 31.08.2005