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Chaos an der US-Küste:
eine Million Obdachlose

l New Orleans wird evakuiert l Nationalgarde im Kampf gegen Plünderer

New Orleans (dpa). Nach dem verheerenden Hurrikan »Katrina« droht in den Krisengebieten der USA eine humanitäre Katastrophe. Die Behörden in Louisiana, Mississippi und Alabama rechnen mit hunderten Toten. Allein in Louisiana sind eine Million Menschen obdachlos. In der überfluteten Südstaatenmetropole New Orleans hat sich die Lage so dramatisch zugespitzt, dass die Stadt vollständig evakuiert wird.

Alle 100 000 verbliebenen Einwohner sollen die Stadt für die kommenden drei bis vier Monate verlassen. Die ersten von geschätzten 23 000 bis 30 000 Flüchtlingen, die in einem Football-Stadion Zuflucht gefunden hatten, verließen die Stadt gestern in Buskolonnen: Sie sollen zunächst in einem anderen Stadion in Houston (Texas) eine Bleibe finden.
US-Präsident George W. Bush brach seinen Urlaub ab und kehrte zu Krisenberatungen nach Washington zurück. Die Präsidentenmaschine machte dabei einen Umweg über Louisiana, so dass sich Bush aus der Luft ein erstes Bild von der Lage verschaffen konnte.
Unterdessen lief die Bundeshilfe aus Washington an. So setzte die Regierung für zwei Wochen Vorschriften für sauberes Benzin aus, um drastische Verknappungen zu verhindern. »Katrina« hatte die Raffinerien-Kapazitäten zu zehn Prozent und die Rohölförderung zu 25 Prozent lahm gelegt.
Allein in Biloxi in Mississippi rechnen die Behörden mit mehreren hundert Toten unter den Schuttbergen zusammengestürzter Häuser. Nach den Worten von Gouverneur Haley Barbour ist ein 100 Kilometer langer Küstenstreifen zu 90 Prozent zerstört worden. Es habe wie nach einem Atomangriff ausgesehen, sagte er. Für mehr als 2,5 Millionen Menschen brach in drei Bundesstaaten die Stromversorgung zusammen.
In einem verzweifelten Wettlauf gegen die Zeit versuchten Helfer, Leben zu retten. Leichen würden von den Rettungskräften in den Booten beiseite gestoßen, sagte Bürgermeister Ray Nagin. Häuser mit Toten würden mit roten oder schwarzen Zeichen markiert.
US-weit wurden nach Angaben des Nachrichtensenders CNN mehr als 125 000 Nationalgardisten alarmiert, um in der Katastrophenregion bei den Rettungsarbeiten und der Versorgung der Bevölkerung zu helfen. 11 000 waren gestern bereits im Einsatz, wie in Washington mitgeteilt wurde. Die US-Marine schickte ein Schiff zur Trinkwasserversorgung das auch 600 Krankenbetten an Bord hat, sowie mehrere Schnellboote zur Unterstützung. In wenigen Tagen soll ein Lazarettschiff die Südküstenstaaten erreichen.
Die Nationalgardisten sollen auch im Kampf gegen die Plünderer eingesetzt werden. Diebe sollen zu Hunderten in den menschenleeren Straßen unterwegs sein und Säcke voller Lebensmittel aus den Geschäften schleppen.
Bürgermeister Ray Nagin befürchtet, dass New Orleans bald zu 100 Prozent unter Wasser stehen könnte. »Die Schüssel füllt sich«, sagte er dem TV-Sender WDSU. Wegen des steigenden Wasserspiegels funktionierten die Generatoren nicht mehr. Techniker der Wasserversorgung erwarteten, dass der Wasserspiegel in Teilen der Stadt die Höhe des angrenzenden Pontchartrain-Sees erreichen wird.
Das Wasser bahnte sich auch seinen Weg in das historische Touristenviertel »French Quarter«. Während eines Einsatzes der Nationalgarde wurde ein Polizist durch einen Kopfschuss verletzt.
Im »Superdome« stürzte sich am Dienstag (Ortszeit) ein Mann von einer Tribüne in den Tod, insgesamt starben in der Notunterkunft fünf Menschen. Bei Temperaturen von 33 Grad Celsius fiel in dem Stadion wegen des Hochwassers der Strom aus. Weder Toilettenspülungen noch Klimaanlagen funktionierten. Überall stapelte sich der Müll. In New Orleans versagten immer mehr Pumpen.
Sturmexperte Ernst Rauch vom weltgrößten Rückversicher Münchener Rück sprach angesichts der zahlreichen Wirbelstürme von einer ungewöhnlichen Saison. Der Wochenzeitung »Die Zeit« sagte er: »Wir erwarten noch fünf bis acht weitere Stürme in dieser überaktiven Saison im Atlantik und in der Karibik.« Die versicherten Gesamtschäden durch den Hurrikan könnten bis zu 26 Milliarden Dollar (21 Milliarden Euro) betragen, schätzt die auf die Risiko-Analyse von Katastrophen und Wetter spezialisierte US-Firma AIR Worldwide Corporation.Sonderseite

Artikel vom 01.09.2005