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»Katrina« tobt - »Wir beten«

Zurückgebliebene erleben in New Orleans unendliche Stunden der Furcht

New Orleans (WB/dpa/Reuters). »Wie im Horrorfilm!«, ruft eine Reporterin schon vor Morgengrauen aus New Orleans in ihr Mikrofon. Sie beschreibt eine unheimliche Geräuschkulisse.

Das ganze Hotel ächzt und stöhnt, obwohl massiv gebaut, und draußen heult der Wind durch die gespenstisch menschenleeren Straßenschluchten. Dabei dauert es da noch Stunden, bis die Spitze des Monster-Hurrikans »Katrina« die Stadt erreichte.
Jon Donley von der Zeitung »Times-Picayune« harrt mit einigen Kollegen im Gebäude der Zeitung aus. Seine Eindrücke, die er in den Computer hackt, landen direkt auf der Webseite. »Das Szenario ist beängstigend - und es fängt gerade erst an.« Sturmböen krachen auf die Fensterscheiben. »Es ist ein Geräusch wie Zähneknirschen. Die Leute ducken sich reflexartig«, schreibt er. Noch vor Sonnenaufgang, wenn an diesem Montag in New Orleans überhaupt von einem solchen die Rede sein kann, ist weithin der Strom ausgefallen. »Wir bewegen uns mit Taschenlampen im Gebäude. Wir hocken im Treppenhaus. Von dort aus kann man die Einfahrt sehen. Die Bäume biegen sich, als ob sie jeden Moment zerbersten.«
»Die Klimaanlage ist schon aus, die Hoteldirektion drängt uns in den Konferenzraum im dritten Stock«, berichtet Jena Longo ängstlich am Telefon aus dem Hilton-Hotel in New Orleans direkt am Mississippi. Die junge Frau war zu einem Familienfest in der Stadt und hatte am Sonntag noch vergeblich versucht, rauszukommen. »Es war alles zu spät«, sagt sie mit zitternder Stimme. Ihr blieb nichts übrig als auszuharren. »Gott sei Dank ist meine Familie bei mir«, sagt Longo. »Wir beten.«
Im Louisiana Superdome, dem riesigen Football-Stadion mitten in der historischen Stadt, fast 16 Fußballfelder groß, campieren unterdessen 10 000 Menschen, die kein Fahrzeug oder kein Geld hatten, um die Jazz-Metropole am Mississippi-Delta zu verlassen. »Die Leute sind gefasst«, berichtet Ed Bush, Sprecher der Nationalgarde, die die Menschen hier betreut, am Morgen. Kurz darauf die Hiobsbotschaft: Sturmböen haben das Dach des Footballstadions in New Orleans beschädigt. »Ich sehe das Tageslicht durch die Decke«, berichtete Reporter Ed Reams vom Lokalfernsehsender. Ein Teil der Dachabdeckung sei aufgerissen und es regne auf den Rasen. Die Nationalgarde bugsiert mehrere Tausend in einen anderen Bereich. Gefahr bestehe nicht, sagt Bush. »Die Leute sind unglaublich - alle bewahren die Ruhe«, lobt er noch einmal im Fernsehen. Danach sind keine Kameras mehr erlaubt, um die Privatsphäre der Menschen zu schützen.
Mit Erleichterung nehmen alle gegen Mittag die Nachricht auf, dass New Orleans vielleicht doch ein wenig glücklicher davonkommt, als zu befürchten war: »Katrina« zieht östlich, über ländliches Gebiet, an der Großstadt vorbei. So peitscht der Sturm nicht mit 280, sondern vielleicht »nur« mit 220 Stundenkilometern durch die Straßen.
Doch das ändert nichts an der Flutwelle, die sich nach Regenfällen, wie sie in Deutschland vielleicht in einem ganzen Jahr fallen, hier binnen 24 Stunden auf hunderte von Quadratkilometern ergießen. Der Mississippi schwoll gestern minütlich an, vom Meer her drückte der Hurrikan das Wasser an Land. Und New Orleans liegt in einem Kessel, aus dem es kaum Abflüsse gibt.

Artikel vom 30.08.2005