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Er war redegewandt, wurde allseits respektiert, und daher war seine Meinung gefragt, nicht nur in medizinischer Hinsicht. Und er hatte viele Stunden mit Mrs. Hughes verbracht, sich um sie gekümmert und ihr Beruhigungspillen gegeben. Hatte ihr Herz wie eine hohle Trommel geklungen?
Gestern sagte er mir, ich sehe blendend aus. Lüge, antwortete ich.
»Überhaupt nicht! Du hast etwas Blühendes an dir, Miss Jones«, polterte er. »Wie eine Rose.«
Ich schüttelte den Kopf. Rosen haben keine verquollenen Augen von der Schlaflosigkeit, keine trockene Haut und keine Krampfadern. Aber er beugte sich zu mir, umfasste meine Hand und flüsterte: »Wie eine Rose!«
Er hat immer schon, solange ich ihn kenne, behauptet, dass eine schwangere Frau das Schönste ist, was es gibt auf der Welt. Liegt das daran, dass er selbst nie Vater geworden ist? Spricht daraus seine Traurigkeit? Ich fragte ihn in der Teestube. Es kam einfach so über mich. Ich neigte den Kopf zur Seite und sagte: Jim, wie kommt es, dass du nie geheiratet hast?
Das Lächeln, mit dem er meine Frage beantwortete, war resigniert und wehmütig. »Nicht jeder findet den richtigen Menschen, Eve. Da kann man nichts machen. Außerdem bin ich inzwischen schon zu festgefahren in meinen Gewohnheiten für so etwas.«
Meine Mutter, sagte er, habe ebenso blühend ausgesehen, als sie mich erwartete. Er erinnerte sich noch, wie er sie zum allerletzten Mal gesehen hatte, als sie mit bloßen Füßen vorsichtig übers Viehgatter stieg - in einem grünen Pullover mit V-Ausschnitt, der ihr zwei Nummern zu groß war. Tags darauf war sie für immer fortgegangen. Ich glaube, das Blühende an ihr war mehr Aufregung gewesen als sonst etwas. Sie brach in ein neues Land auf, um ihren Iren zu finden. Hatte ihr Herz gerast, als er sie damals abhorchte?
Ich bezahlte den Tee und sein Stück Kuchen und gab ihm einen Kuss.
»Wie eine Rose«, sagte er nochmals wissend, bevor er sich auf den Weg machte.
Er meint, ich sollte die Farm verlassen.
Nicht, dass er das gesagt hätte, aber er spricht mit mir, als wären die Tage, an denen wir uns von Angesicht zu Angesicht sehen können, gezählt. Ich glaube, der Gedanke macht ihn traurig. Nicht, weil er mich verlieren wird, sondern weil Pencarreg für ihn untrennbar mit den JonesÕ verbunden ist. Es ist immer der Hof seines besten Freundes gewesen; sein Staub kam seit eh und je nur von einer einzigen Familie. Ich gehöre dorthin; ich bin die Letzte der Familie, zumindest noch einen Monat lang. Er sieht das, und daher würde es ihn betrüben, wenn ich Wales verließe. Das Ende einer Ära. Aber trotzdem ist er der Meinung, dass ich gehen sollte.
Über das rote Gingham-Tischtuch und unsere Teekanne hinweg hat er trotz meiner Falten, meiner Größe und meines Bauchs das Gefühl, wieder die Achtjährige zu sehen. Ich weiß es. Er sucht an mir nach Spuren von ihr und findet sie - den Schmollmund, die Gewohnheit, mir mit der Hand ins Haar zu fahren und mich verlegen am Kopf zu kratzen, die Narbe auf meinem linken Handgelenk, die vom Feuer zurückgeblieben ist. Auch nach dem Feuer hat er mein Herz abgehorcht. Ich bekam kaum Luft, war schwarz verschmiert vom Ruß und tief in meinen Schmerz versunken. Er brachte eine stechend riechende Salbe für meine Brandwunden und orangefarbene Lilien für mein Fensterbrett. Meine Großmutter wich mir eine Woche lang nicht von der Seite, und als es mir besser ging, nahm sie mein Gesicht in ihre Hände und sagte: Was hast du dir denn dabei gedacht, Evie? Was hätte ich denn bloß getan?
Warum also ist er der Meinung, dass ich fortgehen sollte? Wenn ich in seinen Augen immer noch eine Jones, immer noch ein kleines Mädchen bin?
Es ist ganz einfach. Er weiß, dass ich nicht wirklich hinweg bin über den Kummer. Irgendwie weiß er, dass ich nachts immer noch aus dem Schlaf fahre, das Wort Hughes höre und mich elend fühle. Er sieht, dass ich traurig bin, obwohl ich behaupte, ich hätte das alles überwunden; er hat Recht, ich habe es nicht überwunden. Geh fort, flüstern seine Augen, um des Kindes willen. Lass Rosemary und Billy hinter dir.

Vielleicht hat er Recht. Vielleicht ist die Zeit dafür gekommen - mit dem Hof gehtÕs abwärts, ich spüre es, und das Geld wird knapper und knapper. Aber wohin sollen wir gehen? Nicht in eine Großstadt, überhaupt nicht in die Stadt. Nicht zu seiner Familie in den Malvern Hills, denn wir möchten beide in Wales bleiben. Vorgestern Abend haben wir einen Ziegenmelker gehört - wo bekommt man so etwas noch zu hören? Wir brauchen die freie Natur. Er liebt die reine Luft und den weiten Himmel. Ich muss meine Aussicht, Schafe und wilde Rosen für den Küchentisch haben. Ich möchte, dass unser Kind mit kräftigen Winden und Stichlingen aufwächst. Mit echten Herbstfarben.
Ich bin bisher nur einmal von Pencarreg fort, um anderswo zu leben - oder habe es versucht. Mit achtzehn ging ich an die Universität, um meinen Großeltern eine Freude zu machen. Eine Welt verstopfter Duschen, verbrannten Toasts, warmen Biers und eines mageren Stipendiums, das ich in einem miesen Pub ausgab, wo andere Studenten nicht hingingen. Ich kam zu spät zu den Vorlesungen und ging weg, bevor sie zu Ende waren. Ich ließ mir ein Piercing am oberen Rand der Ohrmuschel machen. Ich erinnere mich, wie ich an herbstlichen Nachmittagen durch Swansea wanderte, Hände in den Taschen, und das Stadtleben wiederentdeckte - was für ein Gefühl es ist, auf herumliegende Papierabfälle zu treten; wie unfreundlich große Menschenmengen sind; wie weit die Sirene eines Zuges trägt. Ich blieb immer wieder stehen und schloss die Augen. Der Wind war voller Staub. Die WillisÕ waren, wie ich wusste, schon lange tot.
Ich hasste es. Ich habe mich dort nur einsam gefühlt. Ich ließ mich auf eine gequälte Beziehung mit einem älteren Studenten ein, um wenigstens einen Versuch zu machen, die Lücken zu füllen, aber es kam mir falsch vor, und ich fühlte mich erbärmlich dabei. Dieses Mädchen bin nicht ich, sagte ich mir immer wieder. Warum konnte ich die Trennung nicht mit derselben Würde ertragen wie meine Mutter? Der Mann sagte, dass er mich liebte, aber es war zwecklos. Es kam mir wie alles andere dort nicht echt vor, ich wollte es nicht, ich sorgte dafür, dass es schief ging. Mir fehlte das Grün. Mir fehlten die Novemberfeuer und die Straßengräben. Hier war ich nicht zu Hause, Daniel war nicht da, und als der November anbrach, wusste ich, dass ich nicht bleiben konnte.
Also doch nicht wirklich ein Stadtmädchen.
Ich stieg in den Zug nach Llandovery, den Rest der Strecke legte ich per Autostopp zurück. Daniel war der Erste, den ich sah, als ich mit meinem Rucksack die Straße hinaufstapfte. Er stand einfach da, eine Rolle Draht um den Arm. Unter den Linden lächelten wir einander zu.
Später sagte er: Der Hof war still ohne dich.Es gibt keinen einzigen Tisch in keinem einzigen Seminarraum der Universität, in dessen Holz nicht sein Name geritzt ist, keine Klotür, die nicht den Buchstaben D trägt. In einem einzigen Semester habe ich ihn auf der ganzen Universität verewigt. Sie gehört ihm.
Jedenfalls, worauf ich hinauswill: Wenn ich geh, dann mit ihm. Keine Frage.
Lass ihn nicht fort, hatte meine Mutter gesagt. Sie wäre stolz auf mich gewesen.

Die erste Suchaktion auf unserer Schafweide fand an einem Sonntag statt - einem schönen Sonntag mit blauem Himmel, voller Libellen und Pimpernellen. Die Schwalben waren aus Afrika zurückgekehrt, und als ich die Vorhänge aufzog, sah ich Daniel im Hof stehen und zu ihnen hinaufschauen.
Die Männer gingen in Hemdsärmeln, manche sogar mit bloßem Oberkörper. Lewis trug eine Baseballmütze, Jeans und sonst nichts, damit die ganze Welt seine Tätowierung bewundern konnte. Ich sah ihn im Hof auf einem Heuballen stehen und Befehle in die Gegend schreien. Es herrschte ein reges Treiben auf unserem Hof - ganz Cae Tresaint war da, oder so ziemlich: mein Großvater, Daniel, Lewis, der Mann mit den grünen Augen, der Junge, der den Hühnerstall reinigte, der Tierarzt, Dr. Matthews, der hinkende Mann, der das Heu lieferte, Gerrys Vater mit seinen Fäusten, Reverend Bickley. Und Journalisten auch. Meine Großmutter brachte ihnen Tee hinaus, ein Auge immer auf den Bergen. Auch Inspektor Gregory war da - er hielt sich im Schatten, und als die Männer aufbrachen, bildete er die Nachhut. Als er meinen Blick auffing, schaute er weg - warum wohl? Unangenehme Erinnerungen vielleicht. Sein Hemd war hinten feucht.
Ich hatte am Abend davor mit meiner Großmutter gestritten. Ich sei zu jung, um mit auf die Suche zu gehen, hatte sie gemeint. Ich sollte auf dem Hof bleiben und hier nach dem Rechten sehen. Was heißt nach dem Rechten, hatte ich gefragt. Und überhaupt, war Rosie denn nicht so etwas wie eine Freundin gewesen? Und konnte ich mich denn nicht leichter in versteckte Mulden und unter Hecken ducken als ein Erwachsener? Mit schmalen Augen kreuzten wir die Klingen. In dieser Nacht kochte ich vor Wut im Bett.
Aber sie war eine willensstarke Frau, meine Großmutter. Wenn sie einmal einen Entschluss gefasst hatte, blieb sie dabei - eine fragwürdige Eigenschaft, und eine, die ich wohl von ihr geerbt habe. Vielleicht haben wir deshalb so oft gestritten, sie und ich. Wir sollten uns in den kommenden Jahren noch aus mancherlei Gründen bekriegen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 09.09.2005