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Aber der junge blonde Polizist sollte in meinem späteren Leben noch einmal auftauchen. Ich war fast sechzehn; er war Ende zwanzig. Ich traf ihn in einem Pub in Tregaron, und die Dinge nahmen ihren Lauf. Er erkannte mich nicht - wie sollte er auch nach all diesen Jahren? Aber ich erkannte ihn. Ich gab einen falschen Namen an. Und ich log natürlich über mein Alter: Was wir taten, war verboten, denn ich war einen Monat zu jung dafür. Es war sehr einfach, ihn zu täuschen - ich habe immer älter ausgesehen, als ich bin. Ich war damals schon fast so groß wie heute; ich hatte schon Falten auf der Stirn und gab mich sehr lässig. Mit meinem trotzigen, von Wind und Sonne gebräunten Gesicht sah ich aus, als könnte mir nichts etwas anhaben.
So war das also. Ich weiß noch, dass ich hinterher erleichtert und zugleich ein bisschen traurig war. Ich erinnere mich noch an den Druck seiner gebrochenen Rippe.
Sie liebte Daniel. Nicht gerade die Enthüllung, die ich mir gewünscht hätte. Ich kaute an den drei Worten. In der Nacht quälte mich dieses Wissen, pochte unter der Decke wie Nesselausschlag, und wenn ich morgens erwachte, wusste ich, dass es einen dunklen, schrecklichen Grund zum Traurigsein gab. An manchen Abenden war sie auf ihren Rollschuhen zu unserem Hof heraufgekommen - vielleicht, um durch sein Fenster zu spähen, vielleicht in der Hoffnung, dass er noch nicht schlafen gegangen sei. Auf der Straße hatte sie ihre Pirouetten um ihn gedreht. Sie hatte geglaubt, dass er ihre Liebe erwidern könnte, und der Gedanke war mir unerträglich. Es war mir unerträglich, mir ihre weißen Finger auf der Tür zu seinem Wohnwagen vorzustellen, unerträglich, mir vorzustellen, wie sie nach Einbruch der Dunkelheit Blumen auf unsere Veranda legte. Hatte sie am Ende der Straße innegehalten, um Mrs. Maddox Cole Porter spielen zu hören, wenn sie von Pencarreg zurück nach Hause gefahren war? Hatte sie den Kopf zur Seite gelegt und sich eingebildet, diese Lieder wären für sie? Ich knirschte mit den Zähnen, wenn ich daran dachte. Und wenn er aus dem Zimmer ging, starrte ich auf die Leere, die er zurückließ.
Ich kenne ihn schon seit einer Ewigkeit, hatte sie gesagt.
Mrs. Maddox muss es gewusst haben. Wenn meiner Großmutter diese einseitige Liebe aufgefallen war, dann mit Sicherheit auch ihr. Diese Rollschuhe waren schließlich keine leisen Dinger, und Rosie hatte jedes Mal, wenn sie zum Hof heraufkam, an dem rosa Haus vorbeigemusst. Ich stellte mir vor, dass Mrs. Maddox das Geräusch im Schlaf gehört und weise in die Dunkelheit hineingenickt hatte. Sie hatte sich sicher ihren Reim darauf gemacht. Sie hatte dieses Wissen ihrer Sammlung hinzugefügt, wie man eine neue Murmel in einen Lederbeutel fallen lässt.
Als ich tags darauf von der Schule heimtrottete, sah ich sie im Garten arbeiten. Ärmel hochgekrempelt, einen Sonnenhut auf dem Kopf. Die Haut unter ihren Armen schwang hin und her wie ein Pendel. »Evie!«, rief sie. »Hier drüben!«
Wir setzten uns auf ihre schmiedeeisernen Stühle unter dem Magnolienbaum und tranken gespritzten Limonensirup. Wespen surrten um unsere Gläser, und ich schlug nach ihnen. Ich wollte mich kein zweites Mal stechen lassen.
»War die Polizei gestern bei euch?«
»Ja«, sagte ich. »Aber mit mir haben sie nicht gesprochen.«
»Kommt vielleicht noch, blodyn.«
»Aber ich weiß nichts.«
»Du könntest etwas wissen, ohne zu wissen, dass du es weißt«, meinte sie. Wir tranken unseren Saft. »Das ist eine schreckliche Geschichte«, murmelte sie.
Ich ließ sie eine Weile nachdenken und im Sessel hin und her rutschen. Dann sagte ich: »Hat sie Daniel geliebt? Ich hab da so was gehört.«
Mrs. Maddox warf mir einen Blick zu. »Geliebt? Das ist ein großes Wort, Evie.«
Ich weiß, dachte ich.
»Ja also, sie hat ihn sicher gern gemocht, so viel weiß ich. Ich glaube, das wissen alle. Rosie hat kaum ein Geheimnis daraus gemacht. Weißt du, dass sie immer wieder zur Farm hinaufgefahren ist, nur um ihn zu sehen?«
Ich nickte.
»Vielleicht hat sie nur geglaubt, dass es Liebe ist. Oder vielleicht war es Liebe, obwohl sie ihn nicht wirklich gekannt hat.«
»Nicht?«
Mrs. Maddox schnaufte verächtlich. »Aber nein! Die haben sich kaum mehr als guten Tag gesagt. Und wie kann man einen Fremden lieben? Verknallt war sie, das schon. Aber Liebe war das nicht. Nein, nein.«
Ich war erleichtert. Ich trank, atmete den Duft ihres Geißblattes ein und dachte an ihn - wie er unter der Dusche summte; dass er keinen Blinddarm mehr hatte; dass er keinen Zucker in den Tee gab, aber zwei Löffel in den Kaffee; wie er meinen Akzent nachmachte und mich Olwen nannte; dass er die Namen der Sterne kannte; wie er sein Gesicht an den Oberarm drückte, wenn er niesen musste; und wie er sich am Telefon immer mit einem fröhlichen Hall-o? meldete. Für mich war er kein Fremder, ich kannte ihn. »Und er weiß auch nichts.«
Einen Augenblick sah sie mich entgeistert an. »Daniel? Natürlich nicht! Und überhaupt - war er denn nicht mit dir beim See?«
Ich sagte ja.
»Na also. Aber eins sag ich dir, Evie, irgendjemand weiß was.«
»Irgendjemand was?«
»Weiß was! Irgendwas. Jemand sagt hier nicht die Wahrheit É«
Durch meine Locken hindurch starrte ich sie an. Die Hitze hatte Schweißperlen auf ihre Oberlippe getrieben. Einen, den wir kannten? Der log? Der Gedanke war unvorstellbar. Er ließ mir den Atem stocken. Ich sah sie an und spürte eine eisige Kälte aus meinem Bauch hochsteigen, als watete ich wieder in den kupferbraunen See hinaus und das Wasser schlösse sich um mich. Wer?
»Überleg mal. Glaubst du nicht, dass es mir aufgefallen wäre, wenn sich ein fremder Mann in der Gegend herumgetrieben hätte? Glaubst du nicht, dass andere ihn bemerkt hätten? Und wo immer sie ist, sie ist gut versteckt. Ortskenntnis. Das musste sogar die Polizei zugeben.« Sie schüttelte den Kopf. »Es muss einer von uns gewesen sein.«
»Vielleicht ist sie gestürzt?«
»Wo gestürzt? Dann hätten wir sie doch inzwischen gefunden.«
»Ausgerissen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist schon fast eine Woche her, meine Süße - eine Woche! -, und niemand hat sie gesehen. Hätte sie nicht eine Reisetasche mitgenommen? Was zum Essen? Geld? Und hätte ein hübsches Mädchen wie sie nicht irgendjemandem auffallen müssen?«
Ja, dachte ich. Zweifellos.
Jemand, den wir kannten.
In diesem Augenblick beugte Mrs. Maddox sich zu mir vor. Sie stellte ihr Glas ab und ergriff mich bei den Handgelenken. Ihre Augen waren plötzlich dunkler. Sie funkelten ganz seltsam, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Furcht? Sie glomm in ihr wie eine Kerze in einer Höhle. »Evie«, flüsterte sie. »Pass auf dich auf. Versprichst du mir das? Versprichst du es? Es könnte wieder passieren. Man weiß nie. Verstehst du? Wirf immer einen Blick zurück über die Schulter. Und trau keinem. Geh nicht zu weit weg und bleib nicht zu lange fort. Versprichst du mir das? Ja?«
Der Heimweg zog sich, in der Ferne donnerte es. Die Schatten beim Brych hatten mütterliche Formen.

Herzen
Dr. Matthews ist im Ruhestand. Er ist achtzig und gibt seine Rente im New Inn in Llanddewi Brefi und für Fahrten zu Oldtimerrennen aus; sein getreues Stethoskop hängt in einem Glaskasten über dem Kamin. Vierundfünfzig Jahre ein und dasselbe Stethoskop, erinnert er mich stolz. »Ein ziemlich alter Freund, weißt du. Denk nur an all die Herzschläge!«
Ein beeindruckender Gedanke, tatsächlich - gesunde Herzen, kranke Herzen, sterbende Herzen; einsame, leidenschaftliche, verletzte, gebrochene, ungeborene kleine Herzen, die die große weite Welt erst kennen lernen sollen. Diese kalte Metallscheibe hat den Herzschlag sehr vieler Leben gehört. Dr. Matthews kennt mein eigenes Herz nur zu gut - von seinem Zustand vor der Geburt bis hin zu meiner Grippe und zum Mumps, als ich dreizehn war und mein Hals so geschwollen, dass ich eine Woche lang nichts anderes essen konnte als Pfirsiche aus der Dose. Manchmal lässt er mich dem Glucksen und dumpfen Pochen lauschen und sagt dann mit einem Funkeln in den Augen: Eine kräftige Pumpe, das muss ich schon sagen. Bisher hat er Recht gehabt. Es schlägt, mein Herz, es ist nicht gebrochen - obwohl es wie alle Herzen im Lauf der Jahre seine Schläge abbekommen hat.
Gestern traf ich mich mit ihm in der Teestube in Tregaron, die einen hübschen Blick über den Platz bietet. Wir treffen uns dort alle vierzehn Tage, und ich glaube, es macht ihm Freude. Ich erzähle ihm, wie die Schwangerschaft vorangeht; er nickt, gibt mir Ratschläge und fühlt sich immer noch ganz als der Arzt, der für das Wohlergehen seiner Patienten verantwortlich ist. Auch ich treffe mich gerne mit ihm. Vor allem erinnert er mich an meinen Großvater. Die aus dem Wörterbuch Evakuierte hatte Laura geheißen, erfuhr ich von ihm - ein hübsches, scheues Ding mit einem zarten, leisen Stimmchen.
Und wir reden über unsere Erinnerungen. Er hat bei der Suche nach Rosie Hughes eine gewisse, wenn auch kleine Rolle gespielt. Wir hatten kein Fernsehen in Pencarreg, aber ich habe gehört, dass er oft interviewt wurde. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 08.09.2005