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Aber ich sagte es nicht. Ich schlüpfte bloß an ihm vorbei und schwang mich über einen Zaun.
Ich fand Billy vor St. TysulĂ•s. Er kaute an seinen Fingern und schwitzte in der Hitze. Er wirkte zerstreut. »Wofür steht K?«, fragte ich.
Ich sagte ihm meine Liste herunter, die Liste, die ich im Lauf von sechs langen Monaten in meinem Kopf angelegt hatte - Kessel, Kängurus, Küche, Knochen, Kaugummi, Kükendiebe, Königskerzen, Königreiche und Küsse. Ich erzählte ihm von dem Buchstaben in meinem Fensterbrett und wie die Leute den Kopf abwandten, wenn ich ihn erwähnte, und ich erzählte ihm auch von der zehnten Regel, dem dicken Punkt, und dass ich zwar erst acht, aber nicht blöd sei. Ich dachte an verletzte Herzen und böses Blut. Böses Blut - als würde irgendetwas Schwarzes aus mir heraussickern, sollte ich je von einem Messer aufgeschlitzt werden. »Was bedeutet es?«
Hinter der Kirche standen ein paar Polizisten, die sich die Stirn wischten.
»Billy!« Ich zerrte an seiner Jacke.
Ohne mich anzublicken, sagte er: »Kieran. Okay?«
Wer, dachte ich.
»Du bist genau wie er.«
Ich blinzelte.
Billy wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Jetzt schaute er mich an.
»Du solltest vorsichtig sein«, sagte er.

Ich ließ ihn stehen. Ich lief los, nur um zu laufen. Ich sprang über Farnkraut, duckte mich zwischen den Kühen durch und dachte die ganze Zeit Kieran. Ein Knacken und ein Flüstern; ein Name, mit dem man sich Zeit lassen musste. Kie-ran. Passte der Name genau in eine Lücke? Bildete ich mir wie eine Närrin ein, dass er etwas Vertrautes an sich hatte? Ich hatte Lust, mich oben am Tor-y-gwynt hinzustellen und ihn laut zu rufen; ihn in den Staub zu schreiben und mit roter Farbe an die Wände zu malen. Zu meinem Fensterbrett zu laufen und den eingeritzten Buchstaben mit den Fingerspitzen nachzuziehen, denn ich verdiente es jetzt. Ich blieb draußen, bis es dunkel wurde. Als ich dann endlich über den Hof lief, sah ich fast mein eigenes Bild vor mir: von meinem Wissen in bunt schillernden Bläschen umglitzert wie ein Taucher, der hochkommt, um Luft zu holen.

Mondschein
Jetzt ist es offiziell: Es ist verboten. Was weißt du über ihn?, hat Mum gefragt. Was hätte ich ihr antworten sollen? Dass ich weiß, wo er kitzlig ist? Dass er fast überall Sommersprossen hat? Was für ein Gesicht sie da wohl gemacht hätte! Und was jetzt? K hat gelacht, als ich es ihm erzählte. Wir werden uns eben nachts treffen, flüsterte er mir ins Ohr - wie in einem Roman! Wenn kein Mond scheint, sehe ich ihn überhaupt nicht. Er besteht nur aus Händen und Mund. Letzte Nacht hat er Wein mitgebracht, und ich habe fast die Hunde geweckt, als ich auf der Veranda stolperte.

Da sind nicht nur Zettel in der Schuhschachtel, sondern auch andere Sachen. Dinge, von denen ich nur annehmen kann, dass sie eine geheime, private Bedeutung für sie hatten. Liebespfande, wie Mrs. Maddox sagen würde. Ich habe sie schon früher manchmal vor mir auf dem Teppich ausgebreitet. Mit einer Tasse Tee oder einem Whisky vor der Schwangerschaft, habe ich sie sorgfältig durchgesehen und mir die genauer angeguckt, die mir gefielen. Sie machen mich glücklich und wehmütig zugleich. Wie eine Maus hat sie diese Dinge gehortet. Sie an sich gedrückt, sie warm gehalten. Sie in der muffigen Finsternis unter ihrem Bett in Birmingham versteckt.
Sogar der Korken von einer Weinflasche ist dabei - säuerlich riechend und schon etwas bröckelig. Und eine getrocknete Kette aus Gänseblümchen. Ein Kieselstein mit einer weißen Ader; drei hart gewordene Zigarettenstummel; eine Eulenfeder; ein einzelner Grashalm, über den ich sehr verwundert war - was für eine Erinnerung mag daran wohl hängen? An der Seite der Schuhschachtel klebt ein vertrocknetes Wiesenschaumkraut, Cardamine pratensis, das sich nicht ablösen lässt. Eine Eierschale - vom Ei einer Amsel? Eine Quittung über drei Pfund zwanzig; ein Stück Goldfolie, auf deren Rückseite in schräger, eilig hingekritzelter Handschrift, die nicht die Handschrift meiner Mutter ist, heute Abend um sieben steht.
Diese Dinge haben an sich keinen Wert für mich. Die meisten ihrer Geschichten kenne ich nicht. Ich kann nur raten, das ist alles. Aber ihr haben sie etwas bedeutet. Sie waren ein Ansporn für sie, vermute ich. An ihren schlechten Tagen, wenn Birmingham grau in grau war, und die Suchanzeige nach Kieran Green in den Evening News keinen einzigen Anruf gebracht hatte, war diese Schachtel wahrscheinlich ein gewisser Trost für sie. Der Duft ihres besten Jahres haftete daran.
Ob es ihr je in den Sinn gekommen ist, dass er vielleicht nicht gefunden werden wollte? Es muss wohl so gewesen sein - sicher war sie eine Träumerin, aber manchmal fürchtet jeder das Schlimmste. Tief im Innersten wie ein Staubkorn in der Perle muss sie es gespürt haben. Und trotzdem machte sie weiter. Vielleicht genügten die Schuhschachtel und mein bloßer Anblick, dass Männer mit roten Haaren ihr nie einerlei wurden. Wenn sie einen sah, erstarrte sie. Ich erinnere mich an die Zeichen. Wie sie sich auf die Zehenspitzen hob, den Atem anhielt, wie ihre Schritte schneller wurden, wie sie meine Hand losließ.

Die gebrochene Rippe
Eigenartig, welche Bedeutung wir einem Namen beimessen. Wäre ich der Mensch, der ich bin, wenn meine Mutter eine andere Kombination von Buchstaben für mich aus der Luft gegriffen, einen schlichteren Apfel vom Baum gepflückt hätte? Führt ein exzentrischer Name zu einem eigenwilligen Leben? Andersherum, war es meinem Großvater - einem Mann mit einem frommen walisischen Namen - bestimmt, ein unerschütterlicher, gesetzestreuer Patriot und stiller Gläubiger zu werden? Wer weiß. Ich weiß nur, dass ein Name mit Weisheit ausgesucht werden soll - wir tragen ihn unser Leben lang mit uns herum. Er hängt über uns bis zum Tod wie unser eigenes privates Wetter. Und selbst wenn wir sterben, existiert er weiter. Ja, er ist das Einzige von uns, das weiter existiert - Buchstaben auf einem Grabstein, eine Plakette auf einer Parkbank. Zu düster?
Niemand nennt mich mehr Evie. Der Name wurde zusammen mit anderen Kindersachen in eine Schachtel verpackt und weggeräumt. Das Alter verändert den Namen aus praktischen Gründen. Evangeline war von allem Anfang an zu lang. Evie wiederum hat seinen Zweck erfüllt, aber seine Endung verloren, als ich ins Teenageralter kam. Ich fand ihn zu kindisch, zu irreführend - ein Name, der nach Schnurspringen und rosa Haarschleifen klingt. Wie eine Schlange ihre alte Haut ablegt, ging ich als Eve hervor - stärker, einfacher, tüchtiger. Eve kann spucken, einen Streit gewinnen, mit den Männern auf den Viehmärkten reden; Eve kann allein Schafe scheren, und zwar rasch; Eve kann eine gute Mutter sein. Es ist im Großen und Ganzen ein besserer Name - obwohl er eine eigenartige Eleganz an sich hat, die nicht zu mir passt, wie ich wohl weiß.
Kieran. Kein Mund kann diesen Namen hart aussprechen. Es ist ein weiches Wort. Ein Name, auf den man das Glas erhebt.
Genug.
Während ich hier schreibe, kann ich den summenden Wasserkessel und Daniel unten in der Küche hören. Er pfeift durch die Zähne - ein Angewohnheit von ihm. Manchmal bemerkt er nicht einmal, dass er es tut. Und er kann auch wirklich lange, Mark und Bein durchdringende Pfiffe ausstoßen - Finger im Mund, Kopf nach hinten geneigt. Das hat immer großen Eindruck auf mich gemacht. Ich selbst habe es nie wirklich fertig gebracht, obwohl ich einen ganzen Sommer lang geübt habe. Einmal allerdings, nur ein einziges Mal, ist es mir gelungen. Plötzlich brach ein schriller Ton aus mir heraus, der von den Bergen widerhallte. Ich war ganz irr vor Freude; Daniel applaudierte. Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass ich es noch einmal schaffen werde. Wenn uns etwas einmal gelingt, glauben wir immer, es müsste uns noch einmal gelingen.
Nicht wahr? Daniel. Sogar die Löwen mögen ihn.
Zurück zu meinem achtjährigen Ich.
Eines Abends kamen zwei Polizisten und klopften an die Eichenhaustür meines Ururgroßvaters Samuel.

* * *
Natürlich hatten wir damit gerechnet. Meine Großmutter wirkte kaum erstaunt, als sie die Tür öffnete und sie mit verschränkten Händen erwartungsvoll da stehen sah. Alle anderen hatten sie ja schließlich schon besucht: Gerry hatte mich auf dem Laufenden gehalten. Er war einer von der unauffälligen Sorte - schmächtig und still - und wurde kaum bemerkt, wenn er mit einem Ohr am Boden durchs Dorf schlich. Er wusste, dass sie stundenlang mit Reverend Bickley gesprochen und auf der Hauptstraße den Verkehr angehalten hatten, um den Fahrern ein Bild von Rosie vor die Nase zu halten. Außerdem kannte Gerry die Polizisten nur zu gut - einen davon sogar beim Namen -, weil er mehr als einmal in der Nacht vom stillen blauen Licht ihres Wagens und einem Klopfen an der Tür geweckt worden war. So ist das Leben eines Jungen mit gewalttätigen Eltern. Er tat mir wirklich Leid.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 06.09.2005