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Was weißt du denn schon, schienen ihre blauen Augen zu sagen. Noch tat es mir nicht Leid, dass sie verschwunden war.In der Schule glaubten wir das Schlimmste. Aber glauben Kinder das nicht immer? Die Neuigkeit von Rosies Verschwinden verbreitete sich durch die Gänge wie ein Lauffeuer. Überall wurde ihr Name geflüstert, und jeder hatte seine eigene Geschichte. Sie wäre nach Cardiff gegangen, um berühmt zu werden; man hätte sie in die Klapsmühle gesperrt; sie hätte eine wildromantische Affäre mit einem älteren Liebhaber gehabt und wäre mit ihm durchgebrannt; sie wäre von einem Verrückten überfallen und in Stücke gehackt worden. Letztere Variante war die weitaus beliebteste, bis sie zur wahrscheinlichsten wurde.
Waren wir zu jung, um zu verstehen, was Vergewaltigung ist? Fast. Meine Vorstellungen von Sex waren immer noch recht verschwommen - ich wusste das Wesentliche, aber keine Einzelheiten. Das Wort pochte an mein Denken wie ein Zweig ans Fenster. Und ich hielt es für ein Wort, das man am besten nicht aussprach. Vergewaltigung, das bedeutete für mich Fäuste und Schmutz und Hintergassen. Es bedeutete blaue Flecken, verschlossene Türen, Scham und Schande und Trauer, und ich war sicher, ich würde bestraft werden, wenn ich das Wort in den Mund nahm. Trotzdem wurde es in St. BartÕs ausgesprochen. Nicht von den Mädchen - wir hüteten uns davor, als spürten wir bereits tief im Innersten, dass es etwas war, wovor wir als weibliche Wesen viel mehr Grund zur Furcht hatten. Aber die Jungs sagten es hinter vorgehaltener Hand. Vergewaltigung. Trais rhywiol. Sie hatten keine Ahnung, wovon sie sprachen.
Aber ich nahm allen Mut zusammen und fragte Daniel. Nicht damals in diesen Sommermonaten - später, als die Polizisten sich wieder zurückgezogen hatten und die Brombeersaison zu Ende gegangen war. Ich klopfte an die Tür zu seinem Wohnwagen, setzte mich zwischen seine Bücher, Kissen und Pullover, die nach offenen Feuern rochen, und sagte: Was genau ist Vergewaltigung? Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Er lehnte den Hinterkopf an die Wand und sah müde aus.
Ich habe seine Antwort noch Wort für Wort im Kopf - denn es war, wie ich jetzt sehe, die perfekte Antwort. Die verdorbene Form von etwas Schönem, sagte er. Als ich weiter in ihn drang, gab er nach und lieferte mir eine andere, einfachere Erklärung. Er benutzte fachliche Ausdrücke und machte ein trauriges Gesicht dabei. Ich hörte genau zu. Langsam verstand ich. Das Wissen sickerte in mich ein wie Licht durch die Spalten in einem Fensterladen. Etwas Schönes - war es das? Es klang seltsam für mich. Als ich an diesem Tag seinen Wohnwagen verließ, sah ich die Welt mit anderen Augen.
Auch Joe Vickery verursachte einen kleinen Aufruhr. Er erzählte, er habe Rosie auf der Hauptstraße autostoppen gesehen - eine Behauptung, die ihm Schwierigkeiten mit der Polizei einbrachte, bevor die Woche zu Ende ging. Im Übrigen glaubte ihm ohnehin keiner. Einem Jungen mit einer fremden Niere konnte man nicht vertrauen. Und außerdem wusste jeder, dass es dumm war, per Anhalter zu fahren. Damit brockt man sich nur Schwierigkeiten ein, hieß es allgemein.
Ob es nun daran lag, dass er Besseres zu tun hatte, oder ob seine Niere die Anstrengung nicht verkraftete, jedenfalls kam Joe nie den Weg zu uns herauf. Wir waren keine Freunde. Wir hatten keinen Grund, Freunde zu sein. Abgesehen von ein oder zwei Ausnahmen interessierten Jungs mich nicht; ich war für alle in St. BartÕs die rabiate Neue mit dem grantigen Gesicht einer Erwachsenen, die hin und wieder einen leichten Ausschlag hatte. Wir waren einander gleichgültig. Ich traf ihn manchmal im Laden oder im Bus, und gelegentlich sah ich ihn vor der Kirche herumlümmeln. Einmal entdeckte ich ihn sogar auf dem Viehmarkt in Llandovery, was merkwürdig war, denn er hatte keinen Grund, dort zu sein, aber wir vermieden es beide geschickt, dass unsere Blicke sich trafen. Er kam nie zu unserem Hof herauf.
Ich war daher ziemlich verwirrt, als er vier Tage, nachdem Rosie zum letzten Mal gesehen worden war, auf unserer Schafweide auftauchte.
Ich war oben auf dem Kamm. Ich hatte den ganzen Vormittag nach Billy gesucht, aber weil ich ihn nicht finden konnte, hatte ich mich mit einem Buch in den Wind gesetzt. Und es war ein guter Wind - frisch und nach Gras duftend. Ich lag ein, zwei Stunden in der Sonne, und als ich wieder aufblickte, sah ich Joe näher kommen.
»Was machst du hier?«, fragte ich.
Er antwortete nicht. Er setzte sich einfach neben mich und betrachtete die Aussicht.
Ich starrte ihn entsetzt an. War das nicht Hausfriedensbruch? Ich sagte etwas in der Richtung, aber er antwortete noch immer nicht. Ich fragte mich, ob er vielleicht etwas Wichtiges zu sagen hatte. Dass seine Geschichte mit dem Anhalten erlogen war, musste immerhin erst bewiesen werden.
Vielleicht sagte er ja doch die Wahrheit.
Vielleicht würde er sich an mich wenden und sagen: Ich habe es gesehen. Vielleicht wollte er sich mir anvertrauen. Vielleicht wusste er genau, wo sie war oder wer sie mitgenommen hatte, und wollte es mir erzählen. Zweifellos war er in Rosie verliebt - alle Jungs waren in sie verliebt. Aber warum ausgerechnet mir? Ich wartete. Ich zupfte an meinen Fingern und hielt den Atem an.
»Also? Joe?«
Er griff nach meinem Buch und vertiefte sich hinein.
»Gib her!« Und ich schnappte es mir wieder. »Warum bist du da? Los, sag schon.«
Aber er sagte gar nichts.
Er beugte sich bloß zu mir, so dass sein Kopf die Sonne ausblendete, unsere Nasen berührten sich, und seine Zähne schlugen gegen meine. Es war ein hastiger, leichter, unerwarteter Kuss. Eine Sekunde lang - weniger als eine Sekunde - ließ ich ihn gewähren. Ich sah die Falten in seinen Augenlidern. Dann zuckte ich zurück und stieß ihn weg. »Was machst du da? Bist du verrückt? Lass mich los! Lass mich los!«
Er stolperte auf die Beine und schoss den Hang hinunter, ohne zurückzublicken. Ich sah ihm nach, rieb mir mit den Knöcheln den Mund ab und begriff: Das war eine Wette gewesen. Eine Herausforderung. Er hatte sich hier heraufgeschlichen, mich geküsst, und war wieder fortgerannt. Irgendwo wartete eine Horde von Jungs auf seinen Bericht. Hat sie sich gewehrt? Wie war es? War es sehr schlimm?
Oder er hatte mich ausgewählt - um zu üben. Auch eine Möglichkeit, überlegte ich. Ich lag als Testperson auf der Hand. Die hübschen Mädchen von St. BartÕs würden Joe keines Blickes würdigen und sich schon gar nicht von ihm küssen lassen. Er hatte keine andere Wahl als mich. Also doch nicht so verrückt.
Wie auch immer, während ich zusah, wie er im Zickzack zwischen den Schafen den Hang hinunterlief, sprach ich das Wort laut aus. Kuss. Ein verführerisches, lockendes Wort. Ich verkündete dem Wind, dass auch dieses Wort mit K begann.
Küsse können Türen öffnen, habe ich festgestellt. Diese eine Geste kann Geheimnisse enthüllen, Gefühle zum Ausbruch kommen lassen. Es lässt sich nicht verhindern - Küsse dieser Art sind einfach. Und sie haben so eine Wirkung. Sie brechen in Tiefen ein, von denen man nie wusste, dass man sie hat.
Aber Küsse können auch Türen schließen - ein Abschiedskuss, ein Kuss zum Trost -, und in gewisser Weise finde ich, dass diese Küsse die besseren sind. Sie sind sicherer. Weniger riskant. Bei einem Kuss, der etwas beendet, weiß man, woran man ist. Man kann sich davon abwenden, tief Luft holen, innerlich lächeln und weitergehen: Solche Küsse machen einen stärker. Und solche Küsse sind meine Spezialität. Ich verteilte sie an Jungs und ging dann meiner Wege. Vor Daniel kannte ich die andere Art von Küssen kaum.
Diese andere Art ist gefährlich. Man exponiert sich damit. Man liefert sich auf Gnade und Ungnade dem aus, der den Kuss erwidert. Das sind die Küsse, die Hollywood liebt - die Küsse, bei denen einem die Knie zittern und das Herz stockt, die einen dazu bringen, Dinge zu sagen, die man bald bedauern könnte. Für diese Küsse tritt man ins Rampenlicht, wie um zu sagen: Hier. Wie auch immer, das bin ich.
So sehe ich das. Und Joes Kuss, auch wenn er ungeschickt und hastig war, auch wenn er schamlose Gründe dafür hatte, war ein Wendepunkt. Er öffnete etwas in mir. Er stieß irgendeine Tür auf, und etwas Neues trat ans Licht, denn ich saß da oben auf dem Kamm und begriff, dass ich nicht länger zu warten bereit war, mir nicht länger Zeit lassen wollte. Und um die zehnte Regel würde ich mich auch nicht mehr scheren - ich würde sie brechen. Zertreten wie eine Glasscherbe oder ein Schneckenhaus. Mich glatt darüber hinwegsetzen. Ich warf mit einem Schwung die Haare zurück, stand auf und wusste, was ich zu tun hatte.
An diesem Abend kam ich spät zum Essen, weil ich losrannte, um Billy zu finden. Wie eine Ausreißerin stürmte ich über die Schafweide davon, und mein Mund prickelte noch immer da, wo Joes Lippen gewesen waren, kurz.

* * *
Er war weder in der Scheune noch auf der Kuhweide, und so lief ich durch die Hintergassen von Cae Tresaint und rief seinen Namen. Auf einem schmalen Pfad zum Hasenglöckchenwald traf ich den Mann mit den grünen Augen, der mich lächelnd fragte: Wen suchst du denn? (wird fortgesetzt)

Artikel vom 05.09.2005