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Hu Min, Sprecherin der Verhandlungsdelegation

»Die Verantwortung liegt nicht
auf der chinesischen Seite.«

Leitartikel
Streit im Welttextilhandel

Viel Platz
auf der
Anklagebank


Von Bernhard Hertlein
Alles, was wärmt, könnte in diesem Winter teurer werden. Das gilt natürlich für Heizöl, Gas und Strom. Es gilt aber auch für Hosen, Jacken und Pullover.
75 Millionen Kleidungsstücke aus China lagern inzwischen bei europäischen Zollstellen. Sie liegen dort wegen neuer Einfuhrkontingente fest. Die Kleidung fehlt denen, die Umsatz dringend brauchen: den Boutiquen, Bekleidungshäusern und Modeabteilungen der großen Kaufhäuser.
Ebenso fehlen sie denen, die aus Kostengründen Nähaufträge nur noch ins Ausland und am liebsten nach China vergeben -ĂŠalso großen Teilen der deutschen Textilindustrie. Deren ehrliche Empörung darüber, dass sie geschlossene Verträge nicht einhalten können, ist natürlich gerechtfertigt. Nur sollten sie ihren Protest nicht allein nach Brüssel adressieren.
Richtig ist, dass die Liberalisierung des Welttextilhandels und die damit verbundene Aufhebung von Importquoten und -zöllen seit Jahren feststand. Richtig ist auch, dass sich außer China, dem großen Profiteur dieser Reform, kein Land und kaum ein Unternehmen wirklich darauf vorbereitet hat. Und richtig ist schließlich drittens, dass darunter in Dritte-Welt-Ländern wie Bangladesch, Kambodscha und El Salvador weniger die Unternehmer zu leiden haben als vielmehr die Hunderttausende von Textilarbeiterinnen, deren Arbeitsplätze von heute auf morgen abgeschafft werden sollten. Nun haben sie nicht durch eigenes Tun oder Verschulden, sondern durch den Einfluss ihrer Kolleginnen in den reichen Ländern des Westens noch einmal eine Schonfrist erhalten.
Verschwiegen wird von denen, die jetzt allein den EU-Ministerrat auf die Anklagebank schieben, dass es zunächst die US-Administration in Washington war, die schon kurz nach dem Fall der Schranken neue Barrieren errichtet hat. Dadurch wurden naturgemäß weitere Container mit Textilien aus China, die eigentlich für die Kundschaft in den Vereinigten Staaten bestimmt waren, nach Europa umgeleitet. Dieses Überangebot machte es den italienischen, spanischen und portugiesischen Nähereien noch schwerer, ihre eigene Mode an die Frauen und an die Männer zu bringen.
Dass Peking die neue Abschottungspolitik nicht gut findet, ist verständlich. Ihre sehr harte Kritik verschweigt jedoch, dass die Chinesen selbst nach wie vor auf sehr viele Fertigprodukte aus dem Ausland extrem hohe Zölle erheben - und das, obwohl im Land der Mitte wie nirgendwo sonst auf der Welt die Schornsteine rauchen.
Gegner der Globalisierung, die sich über die neuen regionalen Schutzmauern freuen, jubeln zu früh. Die Bauherren, die sie errichtet haben, würden selbst am meisten darunter leiden, wenn sie nicht bald wieder abgebaut werden. Je länger der jetzige Zustand dauert, umso größer werden die Probleme für die Hersteller und Händler in Deutschland.
Inzwischen lastet genug Druck auf den Verhandlungsführern, sich endlich zu einigen.

Artikel vom 31.08.2005