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Angela Merkel wirbt für neuen Aufbruch

Wirtschaftsdynamik in Balance mit sozialem Ausgleich

Von Reinhard Brockmann
Dortmund (WB). Im orangefarbenen Sakko, die Bobfrisur frisch geföhnt und bester Laune hat Angela Merkel gestern ihre Partei in die »Schlusskurve« vor der Bundestagswahl am 18. September geführt.

Tausende Parteimitglieder im Siegesstimmung rief sie dazu auf, sich noch einmal richtig anzustrengen, um »das Letzte aus uns herauszuholen«. Ihr Ziel: Zweite Gründerjahre in Deutschland.
Vorausgegangen war ein Schaulaufen von inzwischen zehn CDU-Ministerpräsidenten. Merkels Männerriege stand symbolhaft für die Renaissance der CDU nach der Niederlage im Bund 1998 und der Parteispendenaffäre 2000. Die Erfolgsstorys dienten dem Aufwärmen der 1000 Delegierten und zigtausend Parteimitglieder. Darunter waren hunderte freiwillige Wahlhelfer in Orange, mit La Ola und Sprechchören feuerten sie die Stimmung an. Die Kurzbilanzen der Ministerpräsidenten eröffneten einen weiten Themenbogen von witzig (Peter Müller und Christian Wulff) über ernsthaft entschlossen (Jürgen Rüttgers) bis bodenständig klar (Peter-Harry Carstensen). Gemeinsame Überschrift: Wo die Union regiert, läuft's besser.
Die gute Stimmung machte es Edmund Stoiber leicht, den Sieg zu beschwören. Seine unglücklichen Störmanöver waren vergessen und verziehen. »Rot-Grün löst keine Probleme, Rot-Grün ist das Problem in Deutschland«: Die einfachsten Sätze fanden die lauteste Zustimmung. Seine Aufgabe war es, Bundeskanzler Gerhard Schröder anzugreifen. Die Zurückhaltung der SPD gegenüber Oskar Lafontaine hat für ihn nur einen Grund: »Man beißt nicht die Hand, die man für die Macht braucht.« Nicht Schröder, sondern dessen zur rot-roten Koalition bereiten Nachfolger seien das Problem.
In Anlehnung an William Shakespeare listete er die Negativ-Leistungen der Bundesregierung von Arbeitsmarkt bis Wachstumsschwäche auf und endete stets, »...aber Schröder sagt, das waren gute Jahre für Deutschland«. Siebenmal enden Stoibers Wortkaskaden in dieser Vorwegnahme des TV-Duells. Das Publikum tobt.
Merkel hält es mit dem Autor des »Kleinen Prinz«, Antoine de Saint-Exupery: »Wenn du Schiffe bauen willst, dann fange nicht an Holz zu sammeln, sondern wecke in den Menschen die Sehnsucht nach dem großen Meer.« Sie wirbt für neuen Aufbruch, Gründerstimmung und Zupacken. Ämter, Banken und Unternehmen sollten sich als Förderer und nicht als Bremsklötze der Wende zum Besseren erweisen. Merkel: »Mein Ziel ist ein Land, in dem die Menschen füreinander einstehen und jeder sich darauf verlassen kann, dass eine starke Gemeinschaft Schutz und Sicherheit vor großen Lebensrisiken bietet.«
Den Vorwurf des Sozialabbaus wirft sie geschickt auf SPD und Co. zurück: »Das Land ist kälter geworden.« Sie wirbt für eine Wir-Gesellschaft statt für ein Land der Ich-AGs. Dieser Ausdruck sei sowieso der grausamste Begriff, der von Rot-Grün in Erinnerung bleibe, sagte sie.
Sie will eine neue Balance finden zwischen wirtschaftlicher Dynamik und sozialem Ausgleich und erinnert daran, dass Gerhard Schröder selbst 1997 noch bereit war, lieber die Mehrwertsteuer zu erhöhen, als nur die arbeitende Bevölkerung die Sozialkosten für alle tragen zu lassen.
Zu guter Letzt fordert sie Gerhard Schröder genauer zu lesen. Der Kanzler schmücke sich mit dem Lob der Finanzzeitschrift »The Economist«. Merkel: »Da steht zwar, dass Reformbemühungen Früchte zeigen können, dass das aber nur gelingt, wenn es einen Regierungswechsel gibt.«

Artikel vom 29.08.2005