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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Hans-Jürgen Feldmann


»Woher nahm Kain seine Frau?«, will der Neunmalkluge wissen und meint, die Glaubwürdigkeit der Bibel schon mit dieser dümmlichen Frage erschüttert zu haben. Tatsächlich werden nur drei Söhne Adams und Evas erwähnt: Kain, Abel und der vor allem aus Kreuzworträtseln bekannte Seth, der sonst weiter keine Rolle spielt. In Wirklichkeit jedoch wollen die ersten Kapitel der Bibel nichts über bestimmte Personen erzählen, sondern beschreiben, wer die Menschen sind und wie sie miteinander umgehen - bis heute. Durch ihre Geschichte, so die ernüchternde Auskunft, zieht sich von Anfang an wie ein roter Faden eine Blutspur und reißt bis zu deren Ende nicht ab.
Kain als Ackermann und Abel, ein Hirte und Viehzüchter, repräsentieren die beiden Zweige bäuerlichen Schaffens. Aber das bildet nur den kulturgeschichtlichen Hintergrund und trägt zum Verständnis der Geschichte (1. Mose/ Genesis 4) nichts bei. Beide Brüder, so erzählt sie, opfern jeweils aus ihren Erträgen. Aber Gott hat nur einen Blick für das Opfer Abels, während er das von Kain nicht beachtet. Damit nimmt das Unheil seinen Lauf und endet für Abel tödlich.
Man möchte gern wissen, warum Gott Abels Opfer gnädig ansieht und das Kains nicht. Doch diese Frage führt lediglich zu zwei möglichen, aber letztlich unfruchtbaren Spekulationen: Entweder gilt Gott als ungerecht, oder man unterstellt dem Kain unlautere Motive, die Gott durchschaut und nicht gelten lassen kann. Er wäre womöglich mit dem Herzen nicht bei der Sache gewesen oder hätte aus Geiz nur ein minderwertiges Opfer dargebracht. Von alledem jedoch weiß die Erzählung nichts. Sie stempelt den Kain eben nicht von vornherein negativ ab.
Erst wenn die falschen Fragen verstummen, kann sich die wahre Pointe entfalten. Dann kehrt die Geschichte die Fragerichtung um und stellt selbst eine Frage an ihren Leser. Diese lautet: Wie hältst du es mit dem Glück und dem Erfolg des anderen? Darauf kommt es entscheidend an. Gerade weil sie nicht erklärt, warum Gott so und nicht anders handelt, spitzt sie ein Problem zu, mit dem jeder auf seine Weise leben muß. Dies ist das Rätsel der Ungleichheit. Die Menschen sind nämlich keineswegs alle gleich, sondern höchst unterschiedlich. Das Bemühen um Chancengleichheit hin und her - es kann doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß Menschen von der Natur sehr verschiedenartig ausgestattet sind. Der liebe Gott hat eben nicht nur Genies, Stars und Schönheitsköniginnen in seinem Figurenkabinett, sondern auch schwächer Begabte, Unbeholfene und Mauerblümchen. Der eine hat es leichter als der andere, und Sonntagskinder sind eher dünn gesät. Das kennen wir und müssen damit leben. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben eines Menschen, sein eigenes Leben anzunehmen und vielleicht eine der schwierigsten. Doch wenn sie mißlingt, dann mißlingt anderes auch.
Kain löst das Problem nun auf seine Weise, die aber eine untaugliche Lösung ist. Er beseitigt den, durch den er auf sein eigenes Mittelmaß gestoßen wird. Das ist ein bis heute gängiges Mittel geblieben, auch wenn es dabei nicht zu Mord und Totschlag kommt. Die Methoden sind oft feiner und raffinierter und nicht selten gemeiner. Man teilt Nadelstiche aus, verbreitet schlechte Gerüchte über den Tüchtigeren, macht ihn madig und beißt ihn mit Worten weg. Ist er dann verschwunden, so scheint die Welt wieder in Ordnung. Man ist dadurch zwar selbst nicht erfolgreicher geworden, aber die eigenen Schwächen erscheinen außerhalb des Vergleichs nicht mehr so groß.
Jean Jacques Rousseau hat dazu gemeint: »Alle Bosheit entspringt der Schwäche.« Letztlich haßt Kain ja in der Tat in der Person seines Bruders sich selbst. Er meint, von seinem Leben betrogen worden zu sein. So schlägt er auf den anderen ein und denkt, wenn er den zerstöre, komme er mit sich selbst ins Reine. Doch »unstet und flüchtig« wird er sein Dasein fristen.

Artikel vom 27.08.2005