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Szenarien zur Vogelgrippe

Gleichzeitig
warnen und
beruhigen


Von Andreas Schnadwinkel
Es ist ein kommunikativer Drahtseilakt, gewissermaßen die rhetorische Quadratur des Kreises: Einerseits wird vor den möglichen Folgen der Vogelgrippe für den Menschen gewarnt, andererseits wegen der (noch) nicht akuten Gefahr beruhigt. Man könnte dies Versuch einer Balance nennen. Jedenfalls bewegen sich Politiker, Mediziner und Medien auf einem schmalen Grat zwischen unnötiger Panikmache und notwendiger Sensibilisierung. Und da wir uns mitten im Wahlkampf befinden, scheint Skepsis angebracht zu sein.
H5N1 heißt der Erreger der Vogelgrippe, der in Asien seit 1997 Vögel befällt. Das Virus kann sich von Geflügel auf Menschen übertragen - nicht aber weiter von Mensch zu Mensch. Das heißt: Nur wer in ganz engen Kontakt mit infizierten Vögeln kommt, ist gefährdet; das sind in Asien aufgrund der verbreiteten Lebensverhältnisse (Überbevölkerung in den Städten, Nutztiere werden wie Haustiere gehalten) ungleich mehr Menschen als in Europa.
Vor acht Jahren starben in Hongkong sechs Personen an der Infektion. Seit Ende 2003 sind weitere 57 Todesfälle bekannt, hauptsächlich in Vietnam und Thailand - bei insgesamt 117 registrierten Infektionen. Die Letalität von rund 50 Prozent bereitet den Experten Sorge.
Das schlimmste Szenario sieht so aus: Das Vogelgrippe-Virus infiziert einen Menschen, der an der Influenza-Grippe erkrankt ist. Beide Viren reagieren miteinander und mutieren zu einem neuen Virus, das dann auch - analog zur Grippe -Êvon Mensch zu Mensch übertragen werden könnte.
Derzeit soll sich H5N1 auf dem Weg westwärts befinden und über Zugvögel im Ural angekommen sein. Dass es in Westeuropa auftauchen wird, halten Experten für wahrscheinlich. Dabei könnte der Schmuggel lebender Federtiere aus Russland und Asien das Virus schneller bei uns ankommen lassen als der Vogelflug.
Was also tun, damit sich die Vogelgrippe -Êunter Vögeln (!) - nicht weiter ausbreitet? In Südostasien werden Millionen Tiere gegen H5N1 geimpft. In den EU-Staaten könnte während der Zugvogelsaison die Freilandhaltung von Geflügel eingeschränkt werden. Das sind richtige Maßnahmen.
Als Entscheider sind (Regierungs-)Politiker gefordert, die für den Kauf antiviraler Medikamente Geld bewilligen müssen. Diese Mittel sind kein Impfwirkstoff, sondern mildern bloß den Verlauf der Krankheit ab.
Dass ihn und seine Berater eine aus Vogelgrippe- und Influenza-Virus entstehende Pandemie durchaus beschäftigt, verrät die verbreitete Liste der Bücher, die George W. Bush während seiner Urlaubswochen in Texas gelesen haben soll. »The great Influenza -ÊThe epic story of the deadliest plague in history« steht sicher nicht zufällig auf der Liste. John Barry thematisiert in seinem Buch die weltweit grassierende »Spanische Grippe«, der 1918/1919 mehr als 20 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Will das Weiße Haus mit der Nennung dieses Titels die Amerikaner auf eine mögliche, mittelfristig eintretende Pandemie vorbereiten? Oder hat der US-Präsident dabei eher an einen biologischen Terroranschlag gedacht? Jedenfalls füllen die USA, Großbritannien und andere westliche Staaten ihre Vorräte an virenhemmenden Arzneien so spürbar auf, dass Pharmakonzerne wegen der Nachfrage erstaunlich positive Quartalszahlen an den Börsen melden. Sie sind die Profiteure.
In Deutschland wird die Stimmung aus anderen Gründen geschürt. In Wahlkampfzeiten setzt Rot-Grün mal wieder auf abstrakte Angst: vor Krieg, Flut - und Vogelgrippe. Als Verbraucherschutzministerin Renate Künast (Grüne) sich eine Epidemie herbeiredete, um die Handlungsfähigkeit der derzeitigen Bundesregierung via TV vorzuführen, da sah man schon den Kanzler, wie Dustin Hoffman in dem Katastrophenthriller »Outbreak«, im Schutzanzug an Krankenbetten stehen.
Bis zum 18. September wird das nicht passieren. Wann und ob überhaupt sich H5N1 von Mensch zu Mensch übertragen könnte, vermag niemand zu sagen. Gegen ein »Supervirus«, das noch keiner kennt und das vermutlich noch gar nicht existiert, kann es vorab auch keinen Impfstoff geben.
Sinnvoll ist die saisonale Herbstimpfung gegen Influenza A. Je mehr Menschen gegen Grippe geimpft sind, desto weniger kann sie sich ausbreiten. Und damit sinkt zumindest mathematisch die Wahrscheinlichkeit, dass Vogelgrippe und Menschengrippe aufeinandertreffen.

Artikel vom 02.09.2005