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Verfassungsgericht setzt sich Grenzen

Politische Prozesse nicht nachprüfbar

Karlsruhe (dpa). Winfried Hassemer machte kein Hehl daraus, dass bei der Entscheidung über die Neuwahl enormer Druck auf den acht Richtern des Zweiten Senats lastete.

Die öffentliche Diskussion habe den Eindruck erweckt, das Verfassungsgericht stehe vor der Wahl zwischen »Pest und Cholera«. Pest wäre danach die Staatskrise, ausgelöst durch den höchstrichterlichen Stopp der Wahlkampfmaschine, sagte der Vizepräsident des Gerichts gestern bei der Urteilsverkündung. »Und Cholera ist der Versuch, die Staatskrise dadurch zu vermeiden, dass man das Grundgesetz hinbiegt.«
Ist also die Cholera ausgebrochen, weil der Zweite Senat die Auslegung des Grundgesetzartikel 68 - der bei einer verlorenen Vertrauensfrage den Weg zu einer Neuwahl eröffnet - den aktuellen politischen Zwängen angepasst hat? Hat sich das Gericht dem Druck gebeugt? Hassemer beantwortete die Frage mit einem eindeutigen Nein: »Ich sehe den Senat in dieser Entscheidungssituation, wie er in diesem Satz zum Ausdruck kommt, nicht.«
Das Gericht verordnet sich in seinem Grundsatzurteil, das möglicherweise auf Jahrzehnte hinaus die Maßstäbe für künftige Bundestagsauflösungen festzurrt, größte Zurückhaltung gegenüber dem politischen Prozess - weil der von Karlsruhe aus ohnehin nicht durchschaubar sei. Denn Politik findet nicht nur in öffentlichen Debatten statt, sondern in oftmals vertraulichen Partei- und Fraktionszirkeln statt.
Damit hat sich das Gericht eine noch größere Selbstbeschränkung auferlegt als im Urteil von 1983. Damals hatte es geheißen, »besondere Schwierigkeiten der in der laufenden Wahlperiode sich stellenden Aufgaben« rechtfertigten nicht die Auflösung des Bundestags. Diesmal findet das Gericht, besondere Schwierigkeiten reichen doch: Der Streit um die »Agenda 2010«, die heftigen Debatten nach den verlorenen Landtagswahlen, Kritik von SPD-Linken - all das lasse den von Schröder behaupteten Vertrauensverlust »plausibel« erscheinen.

Artikel vom 26.08.2005