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Winfried Hassemer (l.) verkündete das Urteil. Als einziger Richter lehnte Hans-Joachim Jentsch (r.) die Neuwahl ab.

Weg zur Neuwahl ist frei

Verfassungsgericht räumt dem Kanzler großen Spielraum bei der Vertrauensfrage ein

Karlsruhe/Berlin (dpa). Das Bundesverfassungsgericht hat sein Ja zur Neuwahl des Bundestages am 18. September mit einer deutlichen Ausweitung des Handlungsspielraums des Kanzlers verbunden.
Während Politik und Wirtschaft das gestrige Urteil einhellig begrüßten, empörten sich die abgewiesenen Kläger über eine »neue Kanzlerdemokratie«. Auch der Richter Hans-Joachim Jentsch, der als einziger in dem achtköpfigen Senat gegen die Neuwahl war, sprach von einer Schwächung des Bundestags.
Bundespräsident Horst Köhler und die Bundestags-Parteien plädierten dafür, dass das neue Parlament ein Selbstauflösungsrecht beschließt. Dafür wäre eine Verfassungsänderung notwendig.
Der Senat unter Vorsitz des Vizepräsidenten Winfried Hassemer wies die Klagen der Bundestagsabgeordneten Jelena Hoffmann (SPD) und Werner Schulz (Grüne) mit der Begründung ab, Schröders Einschätzung, er habe keine verlässliche Mehrheit für seine Reformprojekte, sei plausibel. Das hätten der Streit um die Reform-»Agenda 2010« und die SPD-Verluste bei Landtagswahlen gezeigt.
Die Richter räumten dem Kanzler großen Spielraum bei der Beurteilung seiner politischen Handlungsfähigkeit ein. Sie erklärten eine auf die Auflösung des Parlaments gerichtete Vertrauensfrage - wie sie Schröder am 1. Juli im Bundestag gestellt hatte - für grundsätzlich zulässig. Und zwar dann, wenn der Kanzler mangels Rückhalts in den eigenen Reihen gezwungen sei, von wesentlichen Inhalten seiner Politik abzurücken.
Sie betonten: »Es muss nicht offen und nicht eindeutig zu Tage treten, ob der Kanzler und seine Regierung noch über eine verlässliche parlamentarische Mehrheit verfügen.« In einem Gerichtsverfahren sei dies nur schwer feststellbar. Das Grundgesetz vertraue auf ein System gegenseitiger Kontrolle durch die Verfassungsorgane.
Der frühere Gerichtspräsident Ernst Benda sagte, das Gericht habe neue Akzente gesetzt. Es gebe künftig eine unechte Vertrauensfrage, deren Ziel es nicht mehr sei, die Mehrheit zu stabilisieren, sondern eine Bundestags-Neuwahl herbeizuführen.
Nach Ansicht von Schulz und Hoffmann waren die Voraussetzungen für die Vertrauensfrage - die Lähmung der politischen Handlungsfähigkeit durch fehlenden Rückhalt in den eigenen Reihen - nicht gegeben, weil Schröder nach wie vor das Vertrauen der Regierungskoalition genieße. Jetzt habe der Kanzler ein Parlamentsauflösungsrecht, das Parlament hingegen nicht, sagte Schulz.
Bundespräsident Horst Köhler, der am 21. Juli nach der von Schröder gezielt verlorenen Vertrauensabstimmung den Bundestag aufgelöst und eine Neuwahl angesetzt hatte, sagte: »Die Wähler haben jetzt die Möglichkeit, die Zukunft unseres Landes mitzubestimmen ... Ich rufe sie auf, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen.«

Artikel vom 26.08.2005