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Karlsruher Urteil wirkt weit
über die Neuwahl hinaus

Kräfte zwischen Parlament und dem Amt des Kanzlers neu gewichtet

Von Ulrich Scharlack
Berlin (dpa). Das Ja der Verfassungsrichter zur Bundestagsneuwahl erreichte den Beklagten im Hubschrauber. Auf dem Flug von Berlin nach Hannover wurde Bundespräsident Horst Köhler kurz nach 10.00 Uhr über Funk die Nachricht übermittelt: Karlsruhe habe soeben die Entscheidung für eine Neuwahl bestätigt.

Erleichtert begrüßte Köhler unmittelbar nach der Landung den Richterspruch. Das Staatsoberhaupt hatte sich seine Entscheidung über die Auflösung des Parlaments schwer gemacht. Lange hatte Köhler mit sich gerungen. Nun war mit der Bestätigung der Richter eine Last von seinen Schultern gefallen. »Die Wähler haben jetzt die Möglichkeit, die Zukunft unseres Landes mitzubestimmen«, sagte der Bundespräsident.
Aufatmen, das Verfahren abhaken und weiter mit der Tagesordnung: Das war allgemein die Reaktion der politischen Akteure in Berlin auf das Urteil. Auch der Mann, der alles vor drei Monaten in Gang gesetzt hatte, hielt sich so nicht lange mit der Rückschau auf. Bundeskanzler Gerhard Schröder erschien kurz nach 12.00 Uhr im Kanzleramt vor den Kameras und Journalisten. Auch er begrüßte, dass das Karlsruher Gericht ihn und den »Herrn Bundespräsidenten uneingeschränkt« bestätigt habe.
Schon nach diesem Satz leitete der Kanzler unmittelbar zum Wahlkampf über. »Es geht mir um die Bestätigung meiner Reformpolitik - einer Politik, die Deutschland zu neuer Stärke führt, ohne den sozialen Zusammenhalt in Frage zu stellen.« Und auch die Stellungnahme seiner Kontrahentin gut zwei Stunden später im Reichstag war ein Wahlkampfstatement. Die Bürger hätten nun die Möglichkeit, »ihre Entscheidung für Deutschland zu treffen«, erklärte Unions-Kanzlerkandidatin Angela Merkel. Die Bürger könnten mit einer unionsgeführten Regierung einen »Neuanfang wagen«.
Nach jeweils gut einer Minute verabschiedeten sich Kanzler und Kandidatin. Juristisch hatte der Regierungschef an diesem Tag Recht bekommen. Politisch könnte er am Ende aber der große Verlierer sein. Momentan sieht es nach den Meinungsumfragen so aus, als würde sich sein überraschend am 22. Mai angekündigter Schritt, mit einer bewusst verlorenen Vertrauensfrage die Neuwahl anzustreben, für ihn nicht auszahlen.
Dieser Tag zeigte aber auch exemplarisch, woran es der Politik in Berlin mitunter mangelt: an der nötigen Ruhe. Während in Karlsruhe Gerichts-Vizepräsident Winfried Hassemer das Urteil begründete, versammelte sich im ARD-Studio bereits eine Schar von Rechtsexperten der Fraktionen. Live diskutierte die Runde über die Konsequenzen der Entscheidung, die sie zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht komplett wissen konnte.
Das wurde zwar von den Diskutanten - dem Parlamentarischen Geschäftsführer der Grünen, Volker Beck, FDP-Innenexperte Max Stadler, Unions-Fraktionsvize Wolfgang Bosbach und auch SPD- Innenfachmann Dieter Wiefelspütz - auch betont. Die Argumente wurden aber trotzdem schon einmal ausgetauscht und vor allem über ein neues Selbstauflösungsrecht des Bundestags nachgedacht.
In Unkenntnis der Entscheidungsgründe redeten die Bundestagsabgeordneten an dem eigentlich Wichtigen vorbei: Die Karlsruher Richter gaben dem Kanzler mehr Macht, weil sie seinen Spielraum für eine Auflösung des Bundestag deutlich erweiterten. Die Parlamentsmehrheit gerät künftig umgekehrt »in stärkere Abhängigkeit zum Kanzler«, wie der Bonner Staatsrechtler Wolfgang Löwer sagte.
Karlsruhe gewichtete damit auch die Kräfte zwischen Parlament und Bundeskanzler in Berlin neu. Deutschland wird in Zukunft mehr eine Kanzlerdemokratie sein als eine parlamentarische Demokratie. Und diese Neubestimmung der Machtverhältnisse kann langfristig größere Folgen haben als die Neuwahl am 18. September.

Artikel vom 26.08.2005