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Hart, aber fair: Merkel kommt an

CDU-Kanzlerkandidatin gibt sich in Bielefeld souverän, ehrlich und sogar witzig

Von Reinhard Brockmann
Bielefeld (WB). Die Frau weiß, dass der Sieg zum Greifen nah ist. Angela Merkel hat gestern in Bielefeld zum Endspurt angesetzt - locker, mit Mutterwitz und Vaterlandsliebe.

Weder die Glocken von Altstädter Nicolai-Kirche und St. Jodokus noch die ebenso mann- wie lautstarke linke Szene konnten Merkel aus dem Konzept bringen. Kürzungen, Schuldenabbau und Zumutungen für jeden, Merkels Programm schneidet ganz tief, doch jeder auf dem Alten Markt spürte, dass es vor allem eines ist: hart, aber fair.
Vorher sagen, was hinterher ist - kein Gedanke wurde in 45 Minuten Redezeit stärker in Stein gemeißelt. Politik paradox: Nicht das Blaue vom Himmel versprechen, sondern Steuererhöhungen, Abschied von Freibeträgen und Sparen fast um jeden Preis. Steilvorlagen für Störer und rabiate Besitzstandswahrer? Weit gefehlt: In diesem vom Kanzler selbst verordneten Not-Wahlkampf gehen Pfiffe und Buhrufe ins Leere.
Merkels Ehrlichkeit kommt an. Die Masse der 3000 Zuhörer respektiert die klare Ansage mit freundlichem Applaus. Fast fünf Millionen Arbeitslose, jeden Tag 1000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse weniger, Wachstumsletzter in Europa: Das sind bittere Wahrheiten, die keinen Raum für Schönredner lassen.
Genüsslich zitiert Merkel des Kanzlers sattsam bekannten Ausspruch, wonach er die Wiederwahl nicht verdient hat, wenn »die Zahl der Arbeitslosen nicht spürbar gesenkt werden kann«. Aber auch ein weniger bekanntes Kanzlerwort hat Angela Merkel parat: »Ich will nicht mehr als sechs Pfennig Mineralölsteuerhöhung. Mein Wort gilt.« Das hatte Schröder erklärt, bevor weitere 15 Cent von Rot-Grün draufgesattelt wurden. Das Publikum johlt, die Transparente der Lafontaine/Gysi-Truppe zeigen erste Schlagseite.
Im bordeaux-roten Blazer mit schwarzer Hose und zartem Make up lächelt die starke Frau der deutschen Christdemokratie. Kein Kampfstrahlen à la Westerwelle, wohl aber ein Ausdruck großer Zufriedenheit. Die Argumentationslinen fest im Griff macht sie »ein Angebot«, bittet alle, sich bis zum 18. September ein Bild zu machen, ja, sie bietet den Linken sogar Aufnahme in die Reihen der Union: »Der eine Vorsitzende (Lafontaine, d. Red.) ist ja gerade im Urlaub.«
Merkel macht Mut im deutschen Jammertal: Ob die Politik im globalen Windhundrennen um Lohnkosten überhaupt mithalten könne, fragten die Verzagten. Viele nähmen das stetige Firmensterben - »vornehm heißt das Insolvenz« - schon als unumstößliches Naturgesetz. Falsch, sagt Merkel. In 25 der 30 führenden Industrieländer entstünden »Tag für Tag neue Arbeitsplätze«. Wie eine Botschaft aus einer anderen Welt klingt der Hinweis, dass Dänen, Briten und andere längst die Kurve genommen haben. »80 Millionen haben das Zeug dazu.« Und um welchen Preis? »Wir müssen so viel besser sein, wie wie teurer sind.«
Die Deutschen sind nicht dümmer als andere, sondern nur schlecht regiert. Merkels Begründung ist so raffiniert wie überzeugend. Beim PISA-Ländervergleich stünden die Sachsen inzwischen direkt hinter den Bayern, und sie kommen in nur zwölf Jahren zum Abitur, lacht die gebürtige Ostdeutsche. Brandenburg dagegen rangiert auf Platz 15. Auch dafür hat Merkel eine Erklärung: Sachsen und Brandenburger gingen einst auf die gleiche DDR-Schule, »aber heute setzt Sachsen auf Leistung und Brandenburg auf die Einheitsschule.«
Ihr Humor kommt an in Bielefeld. Aber die Stunde der Wahrheit schlägt für die Rednerin um 17.32 Uhr: Um die Arbeit billiger zu machen und um die Sozialkassen von allen und nicht nur von wenigen zu speisen, müsse die Mehrwertsteuer zum 1. Januar 2006 um zwei Punkte steigen, sagt sie und bemerkt, dass sie jetzt keinen brausenden Applaus erwartet.
Einige Zuhörer honorieren so viel Ehrlichkeit dann doch. Nur hierbei wird Merkel zurückhaltend, spricht ganz leise: »Danke, dass sie überhaupt klatschen.«

Artikel vom 24.08.2005