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Riss oder Riß geht
durch Bruchmühlen

Rechtschreibreform verstärkt Spaltung eines Dorfes

Bruchmühlen (WB). Die Rechtschreibreform spaltet nach Ende der Sommerferien den Ort Bruchmühlen. Ein Teil des Dorfes gehört zum Kreis Herford (NRW), der andere zur Stadt Melle im niedersächsischen Landkreis Osnabrück.
Die einstige Grenze zwischen Preußen und dem Königshaus Hannover führt durch Bruchmühlen.

Während das CDU-geführte Niedersachsen die Rechtschreibreform zum 1. August verbindlich eingeführt hat, wurde im ebenfalls CDU-dominierten NRW die Reform nicht umgesetzt. Die neuen Regeln gelten in NRW zwar auch, nur haben so genannte Verwechslungsfehler keine Auswirkungen auf die Note.
»Das ist eine echte Lachnummer«, kommentiert Deutschlehrer und Leiter der Gesamtschule Rödinghausen, Andreas Stork (48), das Gezänk um die Rechtschreibreform und den angeblichen Riss oder den Riß durch Bruchmühlen.
Gestern begann in seiner Schule für etwa 800 Schüler wieder der Unterricht nach den Sommerferien - etwa 100 davon »reisten« aus dem niedersächsischen Melle-Bruchmühlen an, während der überwiegende Teil der Schüler aus Nordrhein-Westfalen kommt.
Nicht nur durch die Rechtschreibreform ist die Grenze zwischen Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen im gespaltenen Ort Bruchmühen allgegenwärtig: An Fronleichnam und Allerheiligen ist auf der einen Straßenseite - nämlich in Bruchmühlen in NRW - Feiertag und die Geschäfte sind geschlossen. Auf dem Bürgersteig gegenüber - in Bruchmühlen im niedersächsischen Kreis Osnabrück - wird munter eingekauft, herrscht in den Geschäften reges Treiben. Diese imaginäre Mauer wird durch die Rechtschreibreform noch höher, spaltet das Zwei-Länder-Dorf und sorgt bei Einwohnern und Lehrern für Verdruss.
»Wir haben kein Verständnis für diese Situation«, findet Rödinghausens Gesamtschulleiter Andreas Stork, allerdings weniger mit Blick auf die Rechtschreibung als vielmehr auf die Eskapaden der föderalen Schulpolitik. Geschwisterpaare aus Niedersachsen, die dies- und jenseits der Landesgrenze die Schulbank drücken, könnten also bei gleicher Leistung künftig unterschiedlich benotet werden.
Für Wolfgang Ermshaus, didaktischer Leiter der Gesamtschule Rödinghausen, ist das nur reine Theorie. »Die neuen Rechtschreibregeln sind den Schülern längst ins Blut übergegangen. Die Quote der Verwechslungsfehler liegt im Promillebereich«, unterstreicht er. Da werde der Fluss eher mit nur einem »s« geschrieben, das frühere »ß« sei Vergangenheit, schildert der 58-Jährige den Korrekturalltag.
Eine weitere Auswirkung der Teilung: Besucht ein Sprössling in Nordrhein-Westfalen die Grundschule, ein älteres Geschwisterkind aber in Niedersachsen die weiterführende Schule, dann schrumpft der gemeinsame Familienurlaub im Sommer im ungünstigsten Fall - wie im kommenden Jahr - auf zwei Wochen der beiderseits insgesamt sechswöchigen Ferien.

Artikel vom 23.08.2005