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Die ganze Welt
in einer Nacht
kennen lernen

500 000 zelten auf dem Marienfeld

Köln (dpa). 800 000 Gläubige haben Papst Benedikt XVI. am Abend vor der Abschlussmesse auf dem Marienfeld westlich von Köln begeistert zugejubelt. Der Glaube sei die entscheidende Kraft für eine bessere Welt, sagte der Papst bei einem Abendgebet.

»Nur von den Heiligen, nur von Gott her kommt die wirkliche Revolution, die grundlegende Änderung der Welt«, rief der Papst der Menge bei einer Vigil, einem Gebet am Vorabend eines Festes, zu. Er erhielt immer wieder Applaus. Vor der feierlichen Andacht hatte er die Gläubigen in der Abendsonne vom Papamobil aus begrüßt und das Marienfeld durch die Weihung einer Glocke zur »Kathedrale für einen Tag« gemacht.
Mehr als eine halbe Million Teilnehmer der Vigil übernachteten den Angaben des Veranstalters zufolge auf freiem Feld, um zum gestrigen Abschlussgottesdienst schon zur Stelle zu sein.
Es ist die Nacht der Kontraste. Tausende tanzen und singen und nur wenige Meter weiter, gehen andere ins Gebet, reden über ihre Sorgen oder lassen einfach die letzten Tage Revue passieren. Kaum ein Pilger scheint zu schlafen. »Warum sollte ich schlafen, wenn ich die Möglichkeit habe, in einer Nacht die ganze Welt kennen zu lernen?«, sagt Azucena Torres aus Texas und ist schon in der tanzenden Menge verschwunden.
Ein friedliches Zeltlager in der Größe von 600 Fußballplätzen, ohne auch nur einen Polizeieinsatz, ohne Alkohol. Kurz vor Mitternacht: Die Schlafsäcke sind Mann an Mann auf der Wiese ausgebreitet, Papst Benedikt XVI. ist längst nicht mehr da.
Zwischen den Parzellen C8 und D2 schaut eine kleine Gruppe gebannt auf einen Jongleur mit Feuerkegeln. »Da schwillt mir ja der Kamm«, sagt André Borkenhagen vom Roten Kreuz und schreitet ein. Offenes Feuer ist auf dem Marienfeld verboten, brennende Kegel gehören dazu.
Alle sind unterwegs. Oftmals ohne Ziel. »Ich will mir einfach die ganzen Menschen anschauen«, sagt Silvia Boots (31) aus Holland. »Außerdem ist es viel zu kalt, um zu schlafen.«
2.00 Uhr nachts, zehn Grad Celsius: die Hilfsdienste verteilen fleißig Decken. Bei den Maltesern sind die 2000 Alu-Rettungsdecken schon weg. »Die sind alle viel zu dünn angezogen«, klagt Sanitäter Lutz Freimann. Auch die Notärzte haben zu tun - die Auslastung beträgt laut Malteser-Sprecherin Christina Gold 30 Prozent. Viele Pilger sind erschöpft und unterkühlt. »Das sind Kinder, die fünf Tage durchgemacht haben«, sagt eine Ärztin.
Eine Stunde später: Die Schlange vor dem Anbetungszelt mit den 3000 Hostien-Schalen wird immer länger. Maria Digna aus Alicante ist jedoch nur gekommen, um »Trubel und nervigen Trommlern« für ein paar Minuten zu entkommen.
Wenige Meter weiter steht eine Gruppe Deutscher vor den mobilen Toiletten und singt lauthals: »Wir woll'n aufs Dixi-Klo.«
4.30 Uhr: Auch »nervige Trommler« brauchen einmal ihren Schlaf. Es ist ruhiger geworden auf dem überdimensionalen »Campingplatz«. Viele sind in ihre Schlaf- und Müllsäcke gekrochen und haben die Kapuzen ihrer Jacken über den Kopf gezogen.
5.15 Uhr, es wird wieder hell: Pilger Marcel Meißner steht am Kaffeestand. »Hier steppt ja der Papst«, sagt der Frankfurter und ordert Kaffee. 1000 Liter Milch wurden hier in der Nacht verbraucht. Betreiber Frank Kuhlmeyn rechnet mit weiteren 500. »In wenigen Stunden kommt der Papst, da wollen alle wieder top-fit sein.«

Artikel vom 22.08.2005