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»Wir müssen Deutschland
wieder nach vorne bringen«

Unions-Kanzlerkandidatin Angela Merkel im großen Exklusiv-Interview mit dem WESTFALEN-BLATT

Bielefeld (WB). Als erste Frau in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nimmt Angela Merkel Anlauf auf das Kanzleramt. Wenn das Bundesverfassungsgericht der vorgezogenen Neuwahl zustimmt, will die CDU-Parteichefin und Unions-Kanzlerkandidatin am 18. September CDU und CSU zur stärksten Kraft machen und gemeinsam mit dem Wunschpartner FDP die neue Regierung stellen. Im großen Exklusiv-Interview mit WESTFALEN-BLATT-Chefredakteur Rolf Dressler erklärt Angela Merkel, für welche Politik sie und die Union stehen.
»Wir führen einen inhaltlich ähnlichen Wahlkampf, wie ihn die CDU in Nordrhein-Westfalen mit Erfolg geführt hat. Das heißt, wir sagen den Menschen vor der Wahl, was wir nach der Wahl konkret tun werden.«»Alles, was wir für die Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt tun, hilft auch der Rentenversicherung«, davon ist Angela Merkel überzeugt.
»Die EU hat die Grenze ihrer Integrationsfähigkeit erreicht.«

Welches strittige Kernthema oder welche zwei oder drei Themen können nach Ihrer Einschätzung letztlich wahlentscheidend sein?Angela Merkel: Das Thema Arbeitslosigkeit überstrahlt alles andere, und dahinter steht die Grundfrage: Finden wir uns damit ab, dass täglich mehr als 1000 Arbeitsplätze verloren gehen, oder schaffen wir es, dass Deutschland wieder nach vorne kommt und zum Gewinner der Globalisierung werden kann? Hier hat der amtierende Bundeskanzler vielerlei Versprechungen gemacht, die er allesamt gebrochen hat. Das enttäuscht die Menschen natürlich sehr stark und erschüttert ihr Vertrauen in die Politik nur noch mehr.

Zu viel Aufmerksamkeit für die Linkspartei/PDS lenkt in den Wahlkampfauseinandersetzungen ab von SPD bzw. Rot-Grün. Wie können und wollen Sie Ihre Strategie dosieren, um zu verhindern, dass Gerhard Schröder, wenngleich auf Abschiedstour, wie viele ja meinen, davon eher noch profitiert?Angela Merkel: Die Linkspartei nimmt vor allem der SPD Stimmen weg. Es sind zum Teil Nichtwähler, vor allem aber SPD-Wähler, die der Bundeskanzler und der SPD-Vorsitzende ganz offenbar nicht von ihrem Reformkurs überzeugen konnten. Genau deshalb werden CDU und CSU sehr konsequent bei ihrem Kurs bleiben, um so viele Wähler wie nur möglich, vor allem auch die Enttäuschten von unserer Politik zu überzeugen. Wir sind fest davon überzeugt, dass wir mit einer gemeinsamen Kraftanstrengung die Wende zum Besseren in Deutschland schaffen können. Und deshalb sagen wir den Bürgern: Nutzen Sie Ihre beiden Stimmen, nicht um Protest zu wählen, sondern geben Sie die Stimmen denjenigen, denen sie für die Zukunft Deutschlands am meisten zutrauen.

Jürgen Rüttgers hat ja NRW für die CDU gewonnen, obwohl er 20 Prozent Kürzungen und Einschnitte angekündigt hatte. Wird das im Bund ähnlich funktionieren können?Angela Merkel: Wir haben sehr bewusst ein ehrliches Programm vorgelegt, im Gegensatz zur SPD, die den Menschen kein einziges wirkliches Konzept für die nächste Legislaturperiode vorlegt, sondern sich darauf beschränkt, die zaghaften Reformschritte der Agenda 2010 zu verteidigen. Insofern führen wir einen inhaltlich ähnlichen Wahlkampf, wie ihn die CDU in NRW mit Erfolg geführt hat. Das heißt, wir sagen den Menschen vor der Wahl, was wir nach der Wahl konkret tun werden. Zum Beispiel, dass wir die Arbeitskosten senken wollen - und eben deshalb den allgemeinen Mehrwertsteuersatz maßvoll erhöhen müssen. Ich bin überzeugt, dass sich diese Ehrlichkeit am Ende auszahlt und dass die Politik nur so Vertrauen zurückgewinnen kann.

Hartz I bis IV haben die Gewerkschaften dem SPD-Kanzler noch durchgehen lassen. Da und dort wird in Richtung Schwarz-Gelb schon heute mit dem Säbel gerasselt. Sogar das Wort Generalstreik wird in die Debatte geworfen...Angela Merkel: Mich beeindruckt ein solches Säbelrasseln nicht. Ich bin jemand, der sehr ruhig sach- und problembezogen mit den Menschen spricht, genauso wie auch mit den Gewerkschaften - und dabei argumentiert. Im Zeitalter der Globalisierung können wir unsere Soziale Marktwirtschaft und den Wohlstand nur erhalten, wenn wir wettbewerbsfähig sind, wenn wir den Betrieben genügend Flexibilität geben, auf unterschiedliche Wettbewerbssituationen zu reagieren. Ich glaube, bei näherem Nachdenken sehen das auch viele Gewerkschaftsvertreter so, und sie haben sich ja schon in vielen Fällen sehr viel flexibler verhalten - auch bei den Tarifverträgen -, als das früher der Fall war. Je mehr sich die Gewerkschaften zum Vorreiter solcher Entwicklungen machen, umso mehr Akzeptanz werden sie nach meiner festen Überzeugung bei ihren Mitgliedern bekommen. Andernfalls wird der Mitgliederschwund bei den Gewerkschaften weitergehen. Ich möchte starke Gewerkschaften, weil sie wichtige Partner für die Politik sind. Und in diesem Sinne werbe ich für unseren Kurs.

Es herrscht weitgehend Übereinstimmung darüber, dass künftig und so bald wie irgend möglich wieder länger gearbeitet werden muss. Ist die Bevölkerung nach Ihren Eindrücken, die Sie jetzt auch im Wahlkampf gewinnen, dazu überwiegend bereit - oder muss eine neue Regierung, Ihre Regierung dann, noch erhebliche Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit leisten?Angela Merkel: Die Frage der Arbeitszeit ist ja keine Frage, die die Politik regeln kann, das müssen die Tarifparteien miteinander klären. Ich erlebe aber, dass die Menschen sehr gut verstehen, dass unser Land, wenn Arbeitsplätze in Deutschland erhalten werden sollen, so viel besser sein muss, wie es teurer ist. Die Menschen sind meiner Erfahrung nach durchaus bereit, eine oder zwei Stunden in der Woche länger zu arbeiten, wenn dadurch der eigene Arbeitsplatz in Deutschland sicherer wird. Unser Grundproblem ist ja, dass wir gegenwärtig jeden Tag 1000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland verlieren. Diese Entwicklung müssen wir unbedingt stoppen und umkehren.

Kanzler Schröder meint, die Rente erst mit 67 sei allenfalls ein Thema für die Jahre 2020 bis 2035. Bleibt denn aus Ihrer Sicht wirklich so viel Zeit?Angela Merkel: Auch die Herzog-Kommission hatte festgestellt, dass sich die Frage eines höheren Renteneintrittsalters jetzt nicht stellt. Was wir in naher Zukunft gemeinsam schaffen müssen, ist erst einmal die Verlängerung der Lebensarbeitszeit, das heißt: kürzere Ausbildungszeiten, längere Ausschöpfung der gesetzlich geregelten Arbeitszeiten und eine Annäherung des tatsächlichen Renteneintrittsalters an das gesetzliche Eintrittsalter, denn solange die Menschen wie heute schon mit 55 keinen neuen Arbeitsplatz mehr finden, stellt sich das Thema »längere Lebensarbeitszeit« ganz anders. Das akute Problem der Rentenversicherung ist die schlechte Einnahmesituation. Und diese werden wir nur verbessern, wenn wir endlich wieder mehr Wachstum und Beschäftigung in Deutschland erreichen. Mit anderen Worten, alles was wir für die Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt tun, hilft auch der Rentenversicherung.

In diesen Bereich fallen natürlich auch die Reizworte »Reichensteuer« und »Neidsteuer«. Diesen Widerstreit sehen Sie, wie es scheint, relativ gelassen.Angela Merkel: Nachdem dies erst einmal groß verkündet wurde, tritt die SPD dafür mittlerweile erkennbar nur noch verhalten ein. Fakt ist: Für den Bundeshaushalt werden in diesem Jahr annähernd 40 Milliarden Euro Schulden neu aufgenommen werden - und die SPD versucht hier mit einer kosmetischen Maßnahme von einer Milliarde Euro »Reichensteuer« doch nur, Gemüter zu beruhigen. Viel sinnvoller wäre es, wirklich ruhig zu argumentieren und vor allem, wie wir das wollen, vielerlei Ausnahmen im Steuerrecht zu streichen, damit jeder, der den Spitzensteuersatz zahlen müsste, tatsächlich auch wieder den Spitzensteuersatz zahlt.

Das nach Ansicht vieler Fachkenner konstruktive Konzept der Union für eine durchgreifende Einkommensteuerreform wird derzeit stark überdeckt von der Kritik an Ihren Plänen für eine Mehrwertsteuererhöhung. Muss die Union in den noch verbleibenden Wahlkampfwochen die Auswirkungen den Bürgern nicht noch stärker vermitteln?Angela Merkel: Genau das tun wir. Es wird deutlich, dass dies keine Einzelmaßnahme ist, sondern sie dazu führt, dass wir die direkten Kosten für die Arbeit senken, damit die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr Geld in der Tasche haben und die Kosten der Arbeitgeber sinken.

...und die Mehrwertsteuererhöhung?Angela Merkel: Ich hebe stets deutlich hervor, dass der ermäßigte Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent besonders für Lebensmittel, für den öffentlichen Personennahverkehr, für Zeitungen und Bücher erhalten bleiben wird, denn das sorgt für die soziale Balance. Und die Wohnungsmieten sind ja sowieso mehrwertsteuerfrei. Die Vereinfachung des Steuerrechts hingegen ist eine Maßnahme, durch die spürbar mehr Gerechtigkeit ins Steuersystem kommt. Die Steuersätze, die auf dem Papier stehen, werden dann auch in Zukunft gezahlt. Das heißt, jeder zahlt wieder nach seiner Leistungsfähigkeit. Gerade die Berufung von Professor Paul Kirchhof als Finanzexperte meines Kompetenzteams ist ein Zeichen dafür, dass wir es mit einer solchen Steuerreform ernst meinen.

Von Professor Kirchhof ist zu erwarten und deswegen haben Sie ihn ja auch berufen, dass er aus Überzeugung Steuer-, Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik als miteinander zu verbindende Instrumente sieht. Wird er es in der weitgefassten Volkspartei CDU eher leichter oder schwerer damit haben?Angela Merkel: Seine Berufung empfinden unsere Anhänger als Bereicherung. Denn genau diese Gemeinsamkeit belegt sehr anschaulich, dass Steuerrecht nicht etwas Technisches ist, dass Sozialpolitik nicht nur etwas mit Zahlen ist, sondern dass dahinter Werte und Überzeugungen stehen. Das ist es, was an der Argumentation und an den Begründungen von Professor Kirchhof so fasziniert.

Stichwort Europapolitik: Österreichs Bundeskanzler Wolfgang Schüssel mahnte soeben eindringlich dazu, »Europa vom Kopf her wieder auf die Füße zu stellen«. Das hat richtungweisenden Charakter. Wie werden Sie es als Bundeskanzlerin mit den Zielen politische Union, EU-(Ost-) Erweiterung und vor allem auch mit dem neuralgischen Thema Türkei-Beitritt konkret halten?Angela Merkel: Ich bin mit meinen Vorstellungen sehr nahe bei Bundeskanzler Wolfgang Schüssel. Europa muss sich auf seine Kernkompetenzen konzentrieren. Das heißt: Wir müssen der überbordenden Bürokratie den Kampf ansagen und Europa bürgernäher gestalten. Dazu gehört im übrigen auch deutlich zu machen, dass es keine Alternative zur europäischen Einigung gibt und dass wir alle davon profitieren.
Europa steht auch für den Leistungswillen und das Leistungsvermögen unseres Kontinents im weltweiten Wettbewerb. Das Ziel, das sich die Europäer gesetzt haben mit dem Lissabon-Prozess, eine dynamische, ja, die dynamischste Region der Welt zu werden, ist ein richtiges Ziel. Dieses große Vorhaben dürfen wir aber nicht mit zahllosen, immer neuen Richtlinien so hemmen, dass dadurch die Wettbewerbsfähigkeit erlahmt, und uns Hindernisse auferlegen, die andere Kontinente nicht haben. Außerdem müssen wir den Menschen ehrlich und klar sagen, wo die Grenzen Europas sind. Die EU-Osterweiterung war richtig und wichtig. Jetzt geht es darum, dieses erweiterte Europa auch im Sinne der Bürger zu gestalten. Die Erweiterung um Bulgarien und Rumänien sollte nur stattfinden, wenn die beiden Länder auch wirklich die Kriterien erfüllen. Im übrigen gibt es ein weiteres wichtiges Kriterium für die Erweiterung, und das ist die Integrationsfähigkeit der EU. Und diese ist derzeit an ihre Grenze geraten. Deshalb gehen wir beim Thema Türkei auch den ehrlichen Weg und werben für eine privilegierte Partnerschaft statt einer Vollmitgliedschaft. Ich finde es richtig, dass wir dies bereits am Anfang des Prozesses deutlich sagen und die privilegierte Partnerschaft in den Mittelpunkt stellen. Damit können auch weitere Enttäuschungen auf beiden Seiten vermieden werden.

Artikel vom 20.08.2005