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Es wird vielleicht noch ein wenig blasser werden, sagen die Ärzte. Und die Freunde, wenn man welche hat, sagen vielleicht: Es ist nicht so schlimm, wie du glaubst.
Die erste wirkliche Veränderung, erinnere ich mich, ging von meiner Großmutter aus. Und auch die war zunächst eher unauffällig. Nicht mehr als eine gerunzelte Stirn in den ersten Tagen. Oder ein Blick aus einem Gesicht mit zusammengezogenen Augenbrauen und blassen Lippen. Dann hörte sie auf, mit den Hühnern zu reden, wenn sie die Eier holen ging, tat es nur noch schweigend, und schließlich vergaß sie die Eier ganz. Es wurde meine Aufgabe, am Morgen, bevor ich in die Schule ging, die kleine Holztür zu öffnen und ins Dunkle hineinzutappen. Es roch muffig da drin, aber ein warmes Ei im Stroh zu finden war immer eine kleine Freude. Nur für mich gelegt, so kam es mir vor. Und es gefiel mir, wie genau jedes Ei in meine geöffnete Hand passte.
Eines Nachts hörte ich sie ins Badezimmer hinuntertappen, hörte, wie sie den Hahn aufdrehte und die Tür hinter sich zusperrte. Sie wurde ein wenig langsamer. Wenn ich mich auf den Weg zum Bus machte, warf ich einen Blick über die Schulter zurück und sah, wie sie mir durchs Fenster nachschaute. Warum? Manchmal winkte ich, manchmal nicht. Es war eher, als wartete sie darauf, dass jemand kam, nicht darauf, dass ich ging. Ich machte mir ein bisschen Sorgen um sie.
Und plötzlich ließ sie mir weniger durchgehen. Sie verbannte Riesenlutscher und Kaugummi aus dem Haus, ohne es zu begründen. Einmal lief ich mit einer Schere in der Hand die Treppe hinunter und bekam ein Donnerwetter zu hören. Ein andermal riss sie mir - wie ein Turmfalke, der nach Beute taucht - ein Stück Bindfaden aus der Hand, weil sie offenbar meinte, ich könnte mich irgendwie daran verletzen. Ich war völlig verdutzt. Auf einmal spielte es eine Rolle, wo ich mich aufhielt - wo genau auf dem Kamm?, fragte sie und kniff dabei ein Auge misstrauisch zusammen. Und eines Abends kam ich spät von der Schule heim, und sie glühte vor Zorn.
»Wo zum Teufel bist du gewesen?«
Ich runzelte die Stirn. Zwei Stunden Zuspätkommen war für mich kein Grund zur Aufregung. »Auf dem Friedhof«, antwortete ich, »mit Gerry.« Das war natürlich gelogen. Ich war in der Scheune gewesen und hatte erfahren, dass meine Mutter einmal mit Billy eine Wasserschlacht auf unserer Straße ausgetragen hatte, bevor das mit dem Tritt an den Kopf passiert war - Eimer voller Wasser, Ge- kreische und ihr klatschnasser Rock. »Außerdem ist es gar nicht so spät«, ergänzte ich mit einem Achselzucken.
Sie schlug mir mit ihren Küchenhandschuhen aufs Hinterteil, und ich war empört. Ich bin acht!, schrie ich. Du darfst mich nicht schlagen! Ihre Antwort war ein weiterer Schlag, und ich kreischte und stürmte, die Türen hinter mir zuschlagend, hinaus, um Daniel zu suchen. Bei seinem Wohnwagen ließ ich mich ins Gras fallen und jammerte ihm die Ohren voll. Er hörte zu, rauchte und sagte wenig. Ich glaube, er war mit den Gedanken woanders.
Und sie begann, weniger und weniger Zeit in Pencarreg zu verbringen. Ich kam von der Schule zurück, fand ein stilles Haus vor und eine Notiz auf dem Küchentisch: Bin zu den H's gegangen - Schinken fürs Abendessen im Kühlschrank. Alles Liebe, G.
Sie kochte Schmortöpfe für Mrs. Hughes und brachte sie zu dem roten Backsteinhaus; am Abend telefonierte sie mit ihr und redete beruhigend auf sie ein. Ich tat es mit einem Achselzucken als vorübergehende Phase ab und hatte keine Ahnung, dass diese Beziehung vier Jahre dauern würde, bis zum Selbstmord. Es wäre vielleicht zu viel gesagt, dass Mrs. Hughes und meine Großmutter Freundinnen wurden - sie lachten kaum je miteinander und gingen auch nicht zusammen aus. Ich glaube auch nicht, dass sie sich zu Weihnachten schrieben oder Geheimnisse austauschten. Aber sie wurden Bekannte. Immerhin, wenn irgendjemand ein Recht hatte, Mrs. Hughes zu besuchen, dann meine Großmutter. Sie war die einzige andere Frau in Cae Tresaint, die wusste, was es bedeutet, ins Zimmer der Tochter zu gehen, wenn die Tochter nicht mehr ist. Aufgeschlagene Bücher; Tassen mit kalt gewordenem Tee; ausgefranste Haarbänder; in Eile ausgezogene Socken, die immer noch mit der Innenseite nach außen auf dem Boden herumliegen und einen anstarren.
Ich kann nicht sagen, wem von beiden diese Treffen mehr nutzten. Ich habe sie mir vorgestellt, wie sie im makellosen Wohnzimmer der Hughes' in Armstühlen hocken, auf die Uhr schauen und an ihren Fingernägeln zupfen. Ich stelle mir Polizistinnen vor, die Tee kochen. Sie hatte ein gutes Herz, meine Großmutter, gewiss, und ich zweifle nicht daran, dass sie unsagbar tiefes Mitleid mit dieser Frau empfand, deren Tochter wer weiß wo und wer weiß in welchem Zustand war. Aber insgeheim, denke ich, suchte sie auch selbst Trost. Ich glaube, dass sie zu dem roten Backsteinhaus ging, weil es dort wenigstens einen anderen Menschen gab, der wusste, was es hieß, ein Kind zu verlieren. Verlust ist etwas Einsames.
Vielleicht lege ich zu viel in die Sache hinein. Aber würde das nicht einen Sinn ergeben? Mrs. Hughes' Schmerz war unermesslich, unerträglich, aber er diente als Brücke für meine Großmutter. Sie überquerte diese Brücke mit Schmortöpfen und hausgemachten Suppen und konnte endlich einer anderen Mutter in die Augen blicken, die vielleicht keine Mutter mehr war.
Was die Frage aufwirft: Kann man überhaupt Exmutter sein, so wie Exfrau oder Exgeliebte?

Flugblätter und Anschläge tauchten auf. Man entdeckt immer noch welche, wenn man die Augen offen hält. Rosie sieht inzwischen ein wenig altmodisch aus, ein bisschen verblasst, als hätte ihr Lächeln im Lauf der Jahre sein Strahlen eingebüßt. Wenn ich das Bild jetzt betrachte, sehe ich kein geziertes, selbstsicheres, kluges älteres Mädchen, ich sehe nur ein Kind. Ich sehe eine blonde, naive Zwölfjährige und denke mir: Ich hab Glück gehabt. Das hätte ich sein können. Rosie ist ein verstaubter Name, ein verblichener Schnappschuss, und ich bin hier, ich atme, ich habe die ersten grauen Fäden im Haar, eine Narbe auf dem linken Handgelenk und wappne mich für die dreißig. Hätte es sein können? Hätte es mich treffen können? Bin ich nur um ein Haar entkommen?
Zum ersten Mal sah ich ein Flugblatt, als ich aus dem Schulbus stieg. Es wurde mir vor die Füße geweht. VERMISST, stand darauf. Rosemary Anne Hughes, 12 Jahre alt. Ich musste zugeben, dass es ein gutes Bild war. Von einer Geburtstagsfeier vielleicht? Ihr Kleid hatte einen Rüschenkragen, und ein dünner blauer Papierkringel hing über ihrer Schulter, als hätte jemand Luftschlangen durch den Raum geworfen. Sie trug Ohrringe, ihr Haar war geflochten und mit einem blauen Seidenband zusammengebunden. Ich hatte nie gewusst, dass sie mit dem zweiten Vornamen Anne hieß. Ich hatte nie gewusst, dass sie 1,57 groß war, eine Narbe von einer Brustoperation als Baby hatte, und dass sie zum letzten Mal in einem Schottenrock und einer Baumwollbluse auf pinkfarbenen Rollschuhen gesehen worden war. Sie lächelte mir entgegen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 03.09.2005