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Was bringt das schon?
Worauf es ankommt, ist, dass meine Großmutter mehr im Leben verloren hat, als zumutbar ist. Das ist alles.

K
Natürlich wurde alles anders, als Rosie verschwand - aber nicht über Nacht. Es ist leicht, im Rückblick zu glauben, dass Cae Tresaint von Panik ergriffen wurde, dass Türen verriegelt, der Zugang zu Grundstücken verboten und Ausgangssperren verhängt wurden. Es gäbe vielleicht eine bessere Geschichte ab, wenn ich von den düsteren Orten erzählte - von Tor-y-gwynt, das wachsam über uns thronte, von schattigen Feldwegen und Torfmooren, von den alten Goldgruben, die selbst bei trockenem Wetter feucht wirkten. Sicher waren das unheimliche Orte; und die walisischen Sagen sind voller Schatten. Aber die Veränderungen kamen nur langsam. Sie sickerten nach und nach ein. Sie saugten sich so allmählich in unser Leben hinein wie Feuchtigkeit in eine Wand.
Die Libellen kamen immer noch, obwohl Rosie nicht mehr da war. Gerry und ich ließen unsere Hausaufgaben liegen und liefen mit Netzen den Brych entlang, um sie zu fangen. Manche waren sehr groß, metallisch blau, und rasselten unter den Erlen, bevor sie davonwirbelten. Es gelang uns kaum je, eine zu fangen. Sie standen in der Luft und beäugten uns. Sie schienen unser Spiel zu kennen.
An manchen Abenden setzte ich mich zu Daniel auf die Stufen seines Wohnwagens und sprach mit ihm über die Schule oder die Farm oder ihn. Er saß immer so, dass der Wind den Rauch seiner Zigarette von mir wegblies. Manchmal wäre es mir anders lieber gewesen, ich mochte den Geruch inzwischen gern. Wenn Sterne am Himmel standen, versuchte er sie zu benennen - und manchmal hatte ich den Verdacht, dass er Namen erfand, und machte ihm Vorhaltungen. »Alles wahr«, versicherte er mir dann. »Ich bin mit den Sternen aufgewachsen. Mein Vater hatte ein Teleskop, weißt du.« Das waren schöne Abende, und ich hätte ewig auf den Metallstufen sitzen können. Ich war immer niedergeschlagen, wenn ich meine Großmutter von der Veranda her rufen hörte, dass es spät werde und morgen wieder ein Schultag sei.
Und Lewis war beschäftigter denn je. Er hatte sich eine neue Freundin zugelegt, eine Frau aus dem Dorf, die ein ganzes Stück älter war als er und, wie meine Großmutter mir trocken mitteilte, eine Wasserstoffblondine. Ich wusste nicht genau, was das bedeutete, aber ich ahnte, dass es nichts Gutes war. Zusammen schauten wir aus dem Treppenhausfenster und sahen zu, wie sie in ungeeignetem Schuhwerk über die Kuhfladen stieg, und obwohl meine Großmutter nichts sagte, spürte ich genau, was sie von ihr hielt. Wie hieß sie? Ich weiß es nicht mehr. Aber ihr verdanke ich meinen ersten richtigen Blick auf Brüste. Ich hatte mich hinter dem Hundezwinger versteckt und beobachtet, wie sie auf der leeren Kuhweide die Träger ihres Kleides abstreifte. Ich starrte hin wie gebannt. So etwas sollte ich auch einmal haben? Vielleicht wusste sie, dass ich sie beobachtet hatte, denn sie zwinkerte mir von da an immer zu. Sie hielt sich länger als die meisten von LewisÕ Freundinnen - drei Wochen oder so. Aber sie machte sich abrupt aus dem Staub, als das Dorf zu angespannt, zu aufgeheizt, zu düster wurde. Es freute mich, dass ihr Lewis nicht mehr wert war. Aber er war sauer. Alles, was sie für ihn - und mich - zurückließ, war die Erinnerung an ihr gebleichtes Haar und ihren Hängebusen.
Und Carreg Cennan Castle. Ich erinnere mich, dass wir um diese Zeit einen Schulausflug dorthin machten. Eigentlich wundert mich das jetzt. Kam denn niemandem der Gedanke an Entführung in den Sinn? Und dass es vielleicht nicht so ratsam wäre, Kinder in der Gegend herumklettern zu lassen? Aber vielleicht hielten die Lehrer von St. BartÕs es für besser, den Anschein von Normalität zu wahren. Vielleicht weigerten sie sich einfach, das Schlimmste anzunehmen. Oder vielleicht war es noch zu früh, sich solche Sorgen zu machen - immerhin, so perfekt war Rosies Familienleben nicht gewesen, und dass ein Kind von zu Hause weglief, kam immer wieder mal vor. Wie auch immer, wir fuhren nach Carreg Cennan, und es gefiel mir. Es war uralt, windig und überwältigend. Eine Armee in Marineblau und Gelb fiel über die Ruinen und Fußwege her. Ich stand mit offenem Haar auf den Zinnen, die Black Mountains hinter mir, und fühlte mich wie die Königin der Welt. Es gefiel mir, so hoch oben zu sein. Es gefiel mir, über Carmarthenshire zu blicken und mir vorzustellen, dass das alles mir gehöre, dass ich Herrscherin sei über alles, was hier vor meinen Augen lag. Wir waren Meilen von der Küste entfernt, und trotzdem glaubte ich, von da oben das Meer riechen zu können.

Das warme Wetter schien Billy unruhig zu machen. Die ganzen Wintermonate hindurch, in Regen, Schlamm und peitschendem Wind, hatten die Landstraßen und Berghänge ihm gehört, sagte er. Er hatte sie mit niemandem teilen müssen - wem wäre es schon eingefallen, bei einem Sturm zum Tor-y-gwynt hinaufzuwandern? Wochenlang, bemerkte er, habe ich keinen Menschen gesehen. Aber jetzt waren auch andere da. Bei den Mooren von Cors Caron hatten Rotmilane genistet, und sie zogen Scharen von Wanderern an. Ferngläser blitzten auf dem Kamm auf; Mr. Phipps gingen die Ansichtskarten aus. Meine Schäferhütte verlor ihre Anziehungskraft, weil ständig rotbackige Wanderer in Wollsocken vorbeistiefelten und mich störten. Also hielt ich mich an die alte Scheune. Ich lag mit Billy in ihrem kühlen Schatten, und es war still, bis auf das Klicken, mit dem Billy irgendetwas in seiner Jackentasche hin und her drehte. Geld, nahm ich an - ich hatte es immer für Geld gehalten.
»Hier kommt keiner her«, versicherte ich ihm. »Wozu auch? Ist doch bloß eine Scheune.«
»Weil sie hier Rollschuh gefahren ist«, sagte er mit geschlossenen Augen.
Die Neuigkeit ließ mich hochfahren. »Was? Hier? Bei der Scheune? Unserer Scheune?«
»Nur draußen auf der Straße. Ich hab gesehen, wie sie zu eurem Hof raufgefahren ist, und das heißt, dass sie irgendwann herkommen, sich umgucken.«
Ich holte tief Luft und ließ mich gegen einen alten Balken sinken. Sie war nie hier gewesen. Nie. Die Scheune gehörte mir allein. »Billy, wo gehst du hin, wenn sie kommen?«
»Nicht weit fort. Ich möchte nicht weit fort von hier.«
»Bist du schon mal am Meer gewesen?«
Er lächelte, schüttelte den Kopf.
»Es ist schön da. Ich würd da hingehen, wenn ich du wär.«

* * *
Aber das war nicht Trost genug. Er wirkte immer noch ängstlich, und selbst meine Anwesenheit konnte ihn erschrecken.
Eines Nachmittags fand ich ihn schlafend unter dem Dach vor. Ich schlich mich in meiner Schultracht näher, beugte mich zu seinem Gesicht hinunter und studierte sein Mal. Die Haut war dort etwas glänzender. Wenn ich den Atem anhielte und mich noch tiefer hinunterbeugte, könnte ich vielleicht die kleinen Punkte von den Einstichen sehen. Ich berührte ihn fast. Ich wollte das Wachsartige, die kleinen Unebenheiten spüren. Aber ich weckte ihn auf. Irgendwie spürte er mich, hörte mein Herz schlagen oder roch meinen frischen jungen Schweiß, und er sprang hoch, rannte stolpernd hinein, kauerte sich in eine Ecke und schrie: Was? Was?
»Entschuldige«, sagte ich.
Es dauerte zehn Minuten, bis er so weit war, wieder ins Licht herauszukommen und sich zu mir zu setzen.
Manchmal stellte ich ihm Fragen zu seinem Kopf. Er ging nicht immer darauf ein - oft wandte er das Gesicht ab oder murmelte: Hör auf. Ich will nicht darüber reden. Wenn er in so einer Stimmung war, ließ ich ihn in Ruhe. Ich wollte ihn nicht aufregen.
Aber es kam auch vor, dass er zugänglicher war. Als wir eines Tages nach der Schule durch die Fichtenschonung gingen, fragte ich ihn: »Erinnerst du dich, wie es passiert ist?«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Ich konnte nicht sehen auf diesem Auge. Es dauerte Monate«, sagte er, »bis ich wieder richtig sehen konnte.«
»Du warst blind?« Das hatte mir keiner gesagt.
»Halb«, korrigierte er mich. »Aber mein Auge ist wieder besser geworden, verstehst du?«
»Hat es wehgetan?«
Ich erwartete ein Ja. Ja, es hat wehgetan. Und dass er auch jetzt noch manchmal Kopfschmerzen hätte, als würden die Knochen abermals bersten. Ich stellte mir vor, dass sein Herz nachts in seinem Schädel raste und dass er ein Stechen spürte, wenn man die Haut an dieser Stelle berührte. Wie fühlte es sich an, wenn Regen auf die beschädigte Haut tropfte? War er je mit der verletzten Stelle gegen einen niedrigen Balken gestoßen, und wenn ja, nach wem hatte er gerufen? Nach seiner Mutter? Nach jemand anderem? Aber er zuckte nur die Achseln.
»Nicht besonders. Schlimm war es erst hinterher.«
»Hinterher?«
»Als ich mir das« - er zeigte mit dem Finger hin - »zum ersten Mal ansehen musste.«
Man muss sich das vorstellen: Wie man zum ersten Mal nach drei Wochen zu einem Spiegel tappt und einen ganz anderen Menschen darin sieht. Mit diesem rötlichen Fleck, der sich über eine Gesichtshälfte zieht.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 02.09.2005